Auch wenn sie eine Frau war, würde sie von nun an wenigstens eine Frau sein, die von der Gesellschaft für ihre Fähigkeiten respektiert wurde; und das würde ihr mehr Vorteile und Möglichkeiten verschaffen, falls einer jungen Dame so etwas überhaupt zuteilwerden konnte. Aber die Gelegenheit, ihre Erfüllung zu finden, standen in London auf jeden Fall besser als in einem Vorort von Bristol.
Natürlich hoffte ihre Mutter, dass Jane noch vor ihren Schwestern einen Ehemann fände; und für einen kurzen Moment dachte sie, dass das vielleicht nicht einmal das Schlechteste wäre. Aber so schnell, wie der Gedanke gekommen war, verflog er auch schon wieder. Denn ein schöner schwarzer Hengst jagte auf der Straße neben ihnen vorbei, gefolgt von einem Mann und einer Frau auf zwei kräftigen braunen Stuten. Die Kutsche schien vorbeizugleiten, als sei sie schwerelos, während sie durch das Fenster die Szene der beobachteten, die für Jane absolute Vollkommenheit darstellte. Der Mann und die Frau arbeiteten zusammen, um das Pferd unter Kontrolle zu bringen.
Jane beobachtete die beiden amüsiert. Der Mann glitt von seinem Pferd, während die Frau weiterhin versuchte, näher an den Hengst heranzukommen. Das wilde Tier bäumte sich einen Moment auf und wieherte verängstigt, als der Mann näher an ihn herantrat. Schließlich ging der Hengst ein kleines Stück auf den Mann zu, der nun reglos dastand und auf das Tier wartete. Das Pferd hielt jetzt so still, dass der Mann ihm Zaumzeug anlegen und es mit sich führen konnte. Brav folgte es dem Paar, das ein triumphierendes Lächeln austauschte und nun wieder in die Richtung ritt, aus der sie gekommen waren.
Die mühelose Art, auf die das Paar zusammengearbeitet hatte und die Zuneigung, die sie nicht nur dem Pferd, sondern auch einander gezeigt hatten, inspirierten Jane. Sie beschloss, nach einem Mann Ausschau zu halten, der genauso gut zur ihr passte, wie dieser Mann zu seiner Begleiterin. In diesem Moment wusste sie, dass sie nur jemanden heiraten würde, der sie vollkommen verstand.
Mit diesem Gedanken schlief auch sie schließlich zufrieden ein. Die Kutsche mit den schlafenden Mädchen schaukelte weiter sanft durch die frühe Abenddämmerung, bis der Himmel schließlich schwarz wurde und sie ein Nachtquartier suchen mussten.
Am nächsten Tag konnten sie die Fahrt wegen starker Regenfälle erst am späten Vormittag fortsetzen. Eine lange Strecke war der Weg schlecht und sie kamen nur langsam voran, wovon Anne nichts mitbekam, da sie die meiste Zeit schlief. Kurz vor London besserten sich die Wege und einige Stunden später erreichten sie kurz nach Einbruch der Dunkelheit die Hauptstadt. Die Stadt und die Häuser wurden von Laternen erleuchtet, und viele Menschen waren auch zu dieser späten Stunde noch auf den Beinen. Anne wachte sofort auf, als Lichtstrahlen in die Kutsche fielen, und Jane war überrascht, ihre Schwester, die es normalerweise verabscheute, geweckt zu werden, so munter zu sehen.
„Beruhige dich bitte, liebe Anne”, sagte Jane kopfschüttelnd und rieb sich ihre Augen, die sich erst noch an die Helligkeit gewöhnen mussten.
„Aber sieh doch nur die vielen Menschen, Jane!” Sie zeigte aufgeregt aus dem Fenster und stieß dabei fast mit ihrem Finger gegen Janes Nase.
„Geh zurück auf deine Seite”, ächzte Jane und schob ihre Schwester wieder auf ihren Platz. Nun wachte auch Caroline auf, die mit ihrer Handarbeit auf dem Schoß eingeschlafen war.
„Sind wir denn schon bei Onkel Charles?”, gähnte sie und verstaute ihre Nähutensilien wieder in der kleinen Tasche.
„Nein, aber wir müssten gleich ankommen. Wir fahren gerade durch den belebtesten Teil der Stadt”, erklärte Jane.
„Was die Menschen so spät wohl noch draußen machen?”, fragte Caroline nachdenklich.
„Sie waren bestimmt auf einem Ball!”, rief Anne, die vor Freude den Tränen nahe war. „Schau doch, Jane!”, platze sie heraus. „Offiziere! Ich habe dir doch gesagt, dass wir welche sehen würden, Jane!” Eine Reihe von Männern in roten Uniformen ging die Straße entlang, bei einigen von ihnen hatten sich Frauen eingehakt.
Dahinter lief eine weitere Gruppe Männer, die offenbar adelig oder zumindest von hohem Rang waren. Jane schenkte ihnen jedoch keine Aufmerksamkeit.
Ein Licht flackerte irgendwo in der Ferne hinter den Offizieren und den Männern, die ihnen folgten. Unter der Laterne stand ein Mann - groß und einsam - mit roten Locken, die unordentlich über seine Schläfen fielen. Er schien nichts um sich herum wahrzunehmen, sondern hielt Ausschau nach etwas oder jemandem. Jane konnte nicht aufhören, ihn anzustarren, während sie in der Kutsche an ihm vorbeifuhren. Plötzlich wandte er sich in ihre Richtung und ihre Blicke trafen sich für einen kurzen Moment, bevor sie ihre braunen Augen senkte. Seine blauen Augen sahen jedoch der Kutsche hinterher, bis sie nicht mehr zu sehen war.
Schließlich hielt das Gefährt vor einem stattlichen Landgut am anderen Ende der Stadt. In der oberen Etage brannte noch Licht. Ihre Tante hatte sie offenbar ankommen hören, denn sie kam bereits aus dem Haus gelaufen, bevor die Kutsche zum Stehen gekommen war, und eilte ihnen entgegen.
„Liebling!”, rief sie freudig und aufgeregt nach ihrem Mann. „Sie sind hier! Die Mädchen aus Bristol sind endlich angekommen!”
Die Kutschentür wurde aufgestoßen und Anne sprang heraus, um ihre Tante zu umarmen. „Guten Abend, Tante Mary!”, kreischte sie.
„Guten Abend, Liebes. Wie groß du geworden bist, Liebes”, gluckste die Tante.
„Recht herzlichen Dank, dass wir so lange bei Ihnen und Onkel Charles wohnen dürfen. Es ist überaus gütig von Ihnen”, säuselte Annesley mit übertrieben höflich.
Jane und Caroline stiegen aus der Kutsche, was ihnen aufgrund ihrer Größe um einiges schwerer fiel als ihrer jüngeren Schwester, die Jane gerade bis zur Schulter reichte.
„Jane, Liebes!”, rief ihre Tante. Auch Charles kam nun aus dem Haus, um seine Nichten zu begrüßen. „Du siehst ja noch hübscher aus, als bei unserem letzten Treffen!” Die Tante strich ihr über die Wange. „Und Caroline! Welch feine Gesichtszüge du bekommen hast”, lobte sie und küsste ihre Nichte auf die Stirn.
„Guten Abend, Onkel Charles”, sagte Jane, als sie an ihrer Tante vorbeiging.
„Wie schön, dich zu sehen, Liebes”, sagte der Onkel mit einem warmherzigen Lächeln. Er führte sie ins Haus und ließ seine Frau schnatternd mit den jüngeren Mädchen zurück.
„Hill”, rief er, als sie das Wohnzimmer betraten. Hill war seit Jahren der oberste Bedienstete des Hauses und kannte Jane gut. Schnell kam er in den Raum getrippelt und verbeugte sich eilig, als er Jane sah.
„Miss Jane!”, rief er. „Welch Ehre und Überraschung, Sie hier begrüßen zu dürfen. Ihr Onkel hat mich gar nicht über Ihre Ankunft informiert. Wie schön, Sie wiederzusehen”, sagte er und küsste glücklich ihre Hand.
„Bitte bringen Sie Miss Janes Gepäck auf ihr Zimmer, Hill”, forderte der Onkel seinen Bediensteten auf.
„Ja, natürlich, Sir, sofort.” Er verbeugte sich erneut und verließ den Raum, um die Koffer nach oben zu tragen.
Jane saß bereits am Kamin, um ihre Hände zu wärmen, als ihre Schwestern und Tante ausgelassen das Zimmer betraten.
„Wir sind unglaublich glücklich, hier zu sein, liebe Tante”, bedankte sich Anne erneut.
„Und wir sind überaus glücklich, dass ihr hier seid, Liebes”, antwortete ihre Tante und setzte sich neben Jane. „Ich hoffe, ihr habt eure feinsten Roben mitgebracht, denn ich habe von einigen Edelleuten in der Stadt gehört, dass noch vor Ende des Monats ein Ball stattfinden soll”, erklärte sie verzückt. Ihre Mutter musste Tante Mary geschrieben und erklärt haben, dass sie auf einen Ehemann für sie und Caroline hoffte.
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