Mit Hilfe ihrer Haushälterin Madeline, die die Mädchen in Sachen Stil beriet, suchten sich die beiden älteren Schwestern zwei ihrer besten Taftroben aus. Anne nahm drei mit. Dann gingen sie hinunter in die Küche, um mit ihren Eltern den letzten Abend bei einer Tasse Tee ausklingen zu lassen, bevor sie für einen Monat abreisen würde.
„Bitte hole die Eier für das Frühstück, Maddie”, forderte Mrs. Ramsbury die Haushälterin auf, die umgehend durch die Hintertür nach draußen verschwand.
„Habt ihr auch wirklich an alles gedacht, meine Lieben?”, fragte sie ihre Töchter und sah Jane fragend an. Sie wollte sicher gehen, dass die beiden jüngeren Mädchen nicht nur im Hinblick auf Bälle und Freizeitaktivitäten gepackt hatten. Sie wusste, dass Anne sich besonders auf derartige Vergnügungen freute, aber das Wichtigste entging jungen Menschen dabei oft.
„Ja, Mama. Wir sind bereit”, antwortete Jane und drückte ihrer Mutter zur Bestätigung einen Kuss auf die Wange.
„Wo steckt denn nur euer Vater schon wieder?”, seufzte sie flehend, mit einem Blick zur Decke und wand ihre Hände.
„Draußen im Garten, nehme ich an, Mama”, rief Anne gut gelaunt, die die Sorgen ihrer Mutter nie nachvollziehen konnte.
„Oder er hat sich in der Bibliothek verschanzt”, meinte Caroline.
„Ich werde nach ihm suchen, Mama”, versicherte Jane. „Ich glaube, er hat heute Morgen erwähnt, dass er in die Ställe wollte, während wir anderen nach der lieben Annesley gesucht haben.”
„Ich habe nicht gehört, dass er etwas Derartiges erwähnt hätte”, antwortete die Mutter verwundert.
„Das tun Sie nie”, merkte Jane süffisant an und ging zur Hintertür hinaus, um sich auf die Suche nach ihrem Vater zu begeben. Wie erwartet, war er bei den Pferden im Stall und saß auf einem kleinen Stapel Heuballen, den Jane am Abend zuvor aufgetürmt hatte.
„Vater, Ihr Tee steht auf dem Tisch”, sagte Jane fröhlich.
„Du bist ja heute so vergnügt, mein Kind. Was ist der Anlass dafür?”, fragte er.
„Es ist die Reise, Sir. Ich habe das Gefühl, dass sie für uns alle sehr befreiend sein wird - besonders für Anne, die dann hoffentlich endlich ihr schelmisches Verhalten ablegt”, erklärte sie und blickte in die Ferne.
„Und was ist mit Caroline?”, bohrte er weiter.
„Caroline hat so viele Interessen. Ich denke, in so einer großen Stadt zu sein, wird ihr helfen, neue Menschen kennenzulernen und viele Dinge zu erleben. Sie wird sicherlich viel lernen und vielleicht auch ein neues Hobby oder Talent finden, das sie ausbauen kann.”
„Und du, Liebes?”, bohrte er weiter, denn er war höchst erfreut darüber, seine Lieblingstochter so fröhlich zu sehen.
„Ich?”, sinnierte sie.
„Ja, du. Welche Wunder werden dir in London begegnen?”
„Mir …”, grübelte sie weiter. „Ich habe einfach im Gefühl, dass etwas Großartiges passieren wird. Ich kann es nicht genau erklären, Sir, aber London zu dieser Jahreszeit muss wunderschön sein. Es ist Frühling, und die Leute sind guter Dinge, ganz im Gegenteil zu den Menschen hier in der kalten Jahreszeit. Die Stadt hat so viel zu bieten, und ich hoffe, dass ich ein Teil des Geschehens werde. Ich könnte mir zwar selbst nicht vorstellen, in so einer geschäftigen Stadt wie London - oder selbst Bath - zu leben, aber ich betrachte es als erfrischende Veränderung und freue mich auf die Reise.”
„Könnte es sein, dass du darauf hoffst, einen Ehemann zu finden, mein Kind?”, fragte er leise, auch wenn er sich beim besten Willen nicht vorzustellen vermochte, dass sie ihn eines Tages tatsächlich verlassen sollte.
„Diese Frage ist eine Beleidigung, Sir! Sie wissen ebenso gut wie ich, dass ich nicht im geringsten an einer Eheschließung interessiert bin”, erinnerte sie ihn vehement.
„Das weiß ich, liebe Jane, aber denke wenigstens deiner Mutter zu Liebe einmal darüber nach. Sie hat entsetzlich große Angst davor, dass du als alter Jungfer enden könntest, dass sie wahrscheinlich nachts schon Albträume hat”, erwiderte er und verkniff sich nur mühsam ein Lächeln.
„Dann richten Sie ihr bitte aus, dass ich mich mit Vergnügen binde, wenn mir ein Mann begegnet, der interessant, intelligent, humorvoll, geistreich und vor allem leidenschaftlich genug ist, um mich zu einem Ehebündnis zu bewegen. Aber wenn ich, wie auch bisher, auf meiner Reise keinem solchen Mann begegne, werde ich definitiv niemanden ehelichen”, erklärte sie.
„Das werde ich deiner Mutter sehr gerne ausrichten. Und nun lass uns Tee trinken”, sagte er mit einem Lächeln und führte sie aus dem Stall hinaus in Richtung Haus.
Bei Tagesanbruch war das ganze Haus in Aufruhr. Jane und Caroline luden gerade Gepäck in die Kutsche, als Annesley aus dem Haus gerannt kam und erklärte, dass sie vergessen hätte, ihre Haube einzupacken. Dies führte zu einer eiligen Suche nach der besagten Haube, die seit Tagen von niemandem mehr gesichtet worden war.
Eine halbe Stunde später kam Mr. Ramsbury mit der Kopfbedeckung aus seiner Bibliothek und erklärte, dass sie seit Monaten auf einem hohen Regal in seinem Arbeitszimmer gelegen haben musste.
„Oh, danke, Papa!”, rief Anne voller Freude und packte hastig ihre Koffer um, um einen geeigneten Platz für die Haube zu finden.
„Nun kommt, Mädchen. Ihr solltet ein wenig frühstücken, bevor ihr euch auf die lange Reise begebt”, rief ihre Mutter aus dem Haus.
Die Schwestern liefen hinein und aßen Brot mit Schinken, bevor sie sich endlich in die kleine Kutsche begaben, die mit ihrem Gepäck völlig überladen war. Jane und Anne stritten sich, wie so oft, um den Fensterplatz, den Jane schließlich ergatterte, während sich Caroline gegenüber von ihren Schwestern niederließ.
„Und vergesst nicht, euren lieben Eltern zu schreiben, wenn ihr ankommt”, rief Mrs. Ramsbury, als sich die Türen hinter Caroline schlossen.
„Natürlich, Mama!”, rief Caroline.
„Und benehmt euch gut!”, fügte sie hinzu, als die Kutsche sich in Bewegung setzte.
„Ja, Mama”, rief Anne und streckte den Kopf über Jane aus dem Fenster.
„Und passe auf deine Schwestern auf, Jane!”, schrie sie nun lauter, da sich das Gefährt immer weiter entfernte.
„Ja, Mama!”, schrie Jane zurück und verdrehte belustigt die Augen, während ihre Schwestern kicherten.
„Glaubt ihr, dass wir irgendwelche Offiziere kennenlernen werden?", rief Anne aufgeregt.
„Welchen Unterschied würde das schon für dich machen?”, fragte ihre älteste Schwester, und Anne wusste, dass sie eine Anspielung auf ihr morgendliches Treffen mit George machte. Ihre Aufregung verflog mit einem Mal, und sie lehnte sich mit verschränkten Armen im Sitz zurück.
Caroline ignorierte die Szene, wie sie es immer tat, denn sie war an die beleidigten Grimassen ihrer Schwester nur allzu gut gewohnt.
„Jane”, setzte sie an. „Glaubst du, Mama und Papa schicken uns zu Onkel Charles und Tante Mary weil sie hoffen, dass eine von uns beiden einen Ehemann findet?”, mutmaßte sie beunruhigt.
„Ich hege keinerlei Zweifel daran, meine liebe Schwester, dass Mama außer sich vor Freude wäre, wenn eine von uns mit einem Ehemann nach Hause zurückkehrte. Da ich selbst jedoch nicht die Absicht hege, etwas Derartiges zu tun, liegt es an dir, Caroline”, gab Jane mit einem Zwinkern und Lächeln zur Antwort, woraufhin Anne in schallendes Gelächter ausbrach.
Nachdem Anne eingeschlafen war, ließ Jane ihre Gedanken schweifen. Caroline hingegen arbeitete still an dem Rock weiter, den sie vor einer Woche zu nähen begonnen hatte. Sie war eine solche Perfektionistin, dass das Kleidungsstück nicht einmal annähernd fertig war.
Natürlich war Jane nicht so naiv zu glauben, dass ihre Mutter sie ohne Hintergedanken nach London schickte, um einen Monat bei Tante und Onkel zu wohnen. Aber die Reise bot noch ganz andere Möglichkeiten. Jane würde in den nächsten Monaten Vormund ihrer Schwestern sein, und obwohl dies derzeit keine besondere Herausforderung darstellte, verlieh es ihr dennoch eine neue und respektable Position. Die Leute würden sie als erwachsen und verantwortungsbewusst betrachten - etwas, wonach sie sich in ihrem kleinen Dorf seit Jahren sehnte.
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