Im Zweikampf gefangen hatte Ben keine Chance einzugreifen, als dieser Vampir zielstrebig auf die Frau mit dem Dolch zuging. Nur einen Moment später holte der Typ aus und schlug sie mit einem Hieb so heftig zur Seite, dass ihr Körper ein Stück durch die Luft flog, bevor er etwas abseits auf den Boden krachte.
Ben roch ihr frisches Blut und brüllte vor Wut auf, doch sein Gegner hatte ihn dermaßen fest im Griff, dass er nicht an seine Pistole herankam.
Die Frau in Schwarz rappelte sich sofort wieder auf. Allerdings war ihr der Schleier über die Augen gerutscht.
Glücklicherweise lenkte der Blutgeruch der Bewusstlosen die Aufmerksamkeit des gierigen Vampirs von der tapferen Orientalin ab, während die drei anderen Frauen kreischend auseinanderstoben.
Mit einem zornigen Aufschrei und einer ruckartigen Bewegung riss die mutige Frau sich die schwarzen Stoffteile vom Kopf. Der Inbegriff einer arabischen Schönheit, faszinierend und zugleich geheimnisvoll, kam zum Vorschein.
Trotz der Situation musste Ben lächeln. Das verging ihm jedoch im nächsten Moment, denn wegen der atemberaubenden Ablenkung kassierte er einen brutalen Kinnhaken.
„Lauf! Los, lauf weg!“, brüllte Ben der Frau zu. Der Geruch ihres Blutes alarmierte ihn, denn er wurde intensiver.
Die Orientalin tat jedoch genau das Gegenteil und griff erneut nach ihrem Dolch, während das Grüppchen der drei Frauen wieder hinter ihr Schutz suchte.
Mitsamt seinem Gegner, der ihn immer noch im Griff hatte, versuchte Ben, zu seinem Messer zu rollen, das einsam in der Gasse lag, nachdem der am Hals Getroffene geflüchtet war. Mittlerweile ging es um Sekunden, denn die Frau in Schwarz hatte dem Vampir, der sich über die Bewusstlose hermachen wollte, mit einem zornigen Schrei eine herumliegende Schnapsflasche an den Kopf geworfen und die Hand, mit der sie ihre Waffe hielt, war blutüberströmt.
Doch obwohl diese Furcht einflößende Bestie mit den blutigen, rasiermesserscharfen Fangzähnen nun auf sie zukam und sie wie ein Riese überragte, wich die orientalische Schönheit keinen Zentimeter zurück. Ihre hinreißend grünen Augen funkelnden vor Zorn.
„Lauf weg! Du hast keine Chance!“
Doch sie folgte seinem Rat nicht, duckte sich nur in Erwartung eines Angriffs.
Ben war tief beeindruckt. Sie hatte wirklich Mut, das musste er ihr lassen.
Aber ebendas wäre ihr Todesurteil.
Der Geruch ihres Blutes war mittlerweile zu intensiv und nach ihrer vorherigen Attacke würde der Vampir sie dieses Mal nicht zur Seite schleudern, sondern ihr direkt das Genick brechen oder ihre Kehle herausreißen und sich sofort an ihrem Blut ergötzen.
Ben war fast in Reichweite seines Messers.
Er streckte seinen Arm weit aus, um es mit den Fingerspitzen zu erreichen. Das machte ihn für einen Augenblick wehrlos und sofort traf ihn ein brachialer Schlag in die Rippen – er hörte das Knacken. Ein scharfer Schmerz jagte durch seinen Brustkorb, doch er biss die Zähne zusammen und bekam endlich sein Messer zu fassen.
Anstatt damit seinen eigenen Gegner zu töten, schleuderte er die lange Klinge zum Angreifer der Orientalin. Ben zielte auf den linken, oberen Rücken des Vampirs und legte all seine Kraft hinein – jetzt schickte er ein Stoßgebet zum Himmel.
Nur knapp vor der schwarz gekleideten Frau brach der Vampir wie ein nasser Sack zusammen. Er musste wie erhofft das Herz durchbohrt haben – ein kleines Wunder unter diesen Umständen.
Erst jetzt gelang es ihm, sich voll auf seinen eigenen Kampf zu konzentrieren. Mit einem geschickten Manöver zwang er den blutrünstigen Feind schließlich unter sich. Das verschaffte ihm den nötigen Spielraum, um seine Neunmillimeter mit dem aufgeschraubten Schalldämpfer aus dem Holster zu ziehen. Drei Schüsse ins Herz bereiteten dem Gesetzlosen ein jähes Ende.
Mit einer geschmeidigen Bewegung sprang Ben auf und blickte, auf der Suche nach weiteren Angreifern, prüfend nach allen Seiten.
Ihm war bewusst, dass er nach diesem Kampf einen ebenso schlimmen Anblick bot wie zuvor die mörderischen Vampire. Aus diesem Grund bemühte er sich, ruhig und unbedrohlich auf die Orientalin zuzugehen, die immer noch abwehrbereit mit dem Dolch dastand.
Ihr Atem kam stoßweise und er spürte förmlich, wie das Adrenalin durch ihren Körper rauschte. Während des Kampfes hatte er den Eindruck gewonnen, dass sie ihre Angst in Wut umwandelte und diese Wut dann nutzte, um daraus Kraft zu schöpfen.
Vor ihm stand die mutigste Frau, der er je begegnet war – und sie sah umwerfend aus.
Wie ein heller geschliffener Smaragd strahlten die Grüntöne ihrer Augen, eingerahmt von wunderbar geschwungenen, tiefschwarzen Wimpern und formvollendeten Augenbrauen. Ihre sinnlichen Lippen wirkten auf ihn wie die reinste Verführung inmitten eines anmutigen Gesichts mit makellosen Zügen. Am liebsten wäre er mit seinen Fingern durch ihr welliges Haar gefahren, das die Farbe von dunklem Ebenholz hatte und ihr bis zur Hälfte des Rückens reichte.
Schönheit in jeder Form übte von jeher einen besonderen Reiz auf ihn aus. Durch sein Hobby, das Bodypainting, war er vielen Frauen begegnet, die dem allgemeinen Schönheitsideal entsprachen. Doch diese tapfere und zugleich wunderschöne Orientalin war die erste, die ihn ganz und gar überwältigte. Er bedauerte zutiefst, dass er noch nicht einmal die Umrisse ihrer sicherlich ebenso verlockenden, weiblichen Figur unter dem weiten arabischen Gewand erkennen konnte.
Obwohl seine feine Nase ihre Todesangst deutlich roch, blieb sie tapfer zwischen ihm und den drei Frauen stehen, die dicht aneinandergedrängt hinter ihr Schutz suchten.
Als sie ihn mit ihren umwerfenden Augen fixierte, fühlte er sich gefesselt und in den Bann gezogen wie vom Gesang einer Sirene. Ohne ihn auch nur für einen Wimpernschlag freizugeben, befahl sie etwas mit fester Stimme den völlig verängstigen Frauen in einer kehlig klingenden Sprache. Während ihre Begleiterinnen daraufhin zur Limousine flüchteten und sich dort in verständlicher Panik einschlossen, hob sie drohend den Dolch in ihrer Hand. Dabei spannten sich ihre Muskeln an und sie duckte sich kaum merklich, wohl um sich auf seinen Angriff vorzubereiten.
Langsam und sichtbar steckte er seine Pistole weg und hob beschwichtigend die Hände.
„Hey, ganz ruhig. Der Kampf ist vorbei. Ich werde dir nichts tun.“
Um seine Absicht zu unterstreichen, zog er sich einen Schritt zurück. Um die Situation weiter zu entschärfen, zog er sein Handy heraus und rief erst mal im Hauptquartier an.
„Hallo, Elia, ich brauche Unterstützung. Hier gab es eine ziemliche Sauerei, die wir beseitigen müssen. Insgesamt sechs Tote: drei Vampire, drei Männer und eine vermutlich schwer verletzte Frau. Alles in allem haben wir fünf Augenzeugen, aber um die kümmere ich mich gleich.“
„Und keiner wollte ein Autogramm von dir, Bran?“
Bran – ein wiederkehrender Scherz, denn seine Freunde mixten die Vornamen Ben und Brad, um ihn damit aufzuziehen, dass er Brad Pitt zum Verwechseln ähnlich sah. Gewöhnlich gab er dann humorvoll zurück, dass das Problem in fünfzig Jahren ohnehin auf natürlichem Weg gelöst sei, weil seine Vampirnatur ihn dann immer noch jung aussehen lassen würde. Jetzt war er dazu jedoch nicht in der Stimmung und gab dem stets gut gelaunten Elia nur seine Position durch.
„Du hast Glück, Ben. Agnus wollte sich mit einem alten Bekannten treffen und ist gerade ganz in deiner Nähe. Ich sage ihm Bescheid.“
Ben beendete das Gespräch und schaute sich noch einmal aufmerksam um. Nebenbei zog er sein langes Messer aus dem Herz des letzten Gegners. Die filigranen Ranken, die er mit viel Liebe eingearbeitet hatte, waren blutrot – nicht seine Art von Kunst. Notgedrungen wischte er die Klinge an der Kleidung des Toten ab. Notgedrungen hatte er damals auch das Töten dieser blutgierigen Mörder erlernen müssen. Nur so hatte er seine – von Vampiren verfolgte – menschliche Schwester beschützen und ihr das sicherste Zuhause der Welt bieten können: das Hauptquartier der Wächter.
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