Der Zug formierte sich für den Kirchgang.
Ich bekam einen Stoß in die Rippen. Gleichzeitig stieß die Freundin Huberti die Worte aus: "Du musst gehen. Als Verwandter des Bräutigams gehörst du dazu. Geh nach vorn!“
Ich revanchierte mich auf der Stelle, indem ich ihr den Arm bot und drohend flüsterte: "Nicht ohne dich!"
Dann schritten wir in eine Situation, die mein unbeteiligtes Ich im Nachhinein zu mitleidsvoller Betrachtung von so viel Unwissenheit veranlasste. Der Zug bewegte sich auf den Altar zu. Auf zwei Stühlen, kurz vor der ersten Stufe, ließ sich das Brautpaar nieder. Zwei dahinter aufgestellte Stühle waren für die Trauzeugen bestimmt. Auf dem zur rechten nahm Diethart Meierbeer - so der Name verbürgerlicht – Platz, und wieder hörte ich es durch das feierliche Orgelspiel hindurch murmeln:
"O Gott, er hat ein Loch im Strumpf!“
Zu seiner Linken setzte sich, in schwarze Spitze gekleidet, die älteste der Burger-Töchter, Rotraut, die ich bis dahin erst einmal gesehen und die mich bis dato keines Blickes gewürdigt hatte.
Die Brauteltern und ihr Anhang waren - von mir aus gesehen - auf die Kirchenbänke linkerhand zugesteuert. Als ich mich schnellentschlossen ins Kirchengestühl rechts wenden wollte, spielte meine Begleiterin nicht mit. Sie zog mich weiter nach vorn. Wir landeten schließlich mehr schlecht und noch weniger recht - ich erröte gegen meinen Willen bei der Erinnerung - vor allen anderen auf einer viel zu schmalen, Bank ohne Lehne. Voller Pein erinnerte ich mich an die Ankündigung meines Bruders, das Zeremoniell werde gut eine Stunde dauern. Ich sandte in den ersten Minuten schon Beileidsbekundungen an meinen verlängerten Rücken. Danach konnte ich noch immer nicht der Predigt folgen, weil in mir eine Ahnung aufstieg, dass wir auf einer Gebetsbank saßen, auf dem schmalen Gestühl also, auf das der Betende die Bibel, das Gesangbuch oder die Hände legt, wenn er kniet.
Dieser Erkenntnisprozess wurde durch ein Röhren des Mikrophons unterbrochen, denn auch in dieses ehrwürdige Gotteshaus hatte die Technik mit all ihren Fehlerquellen Einzug gehalten, und der Priester las in rotbäckiger Ehrfurcht vor der hohen Familie und anderen Stadtgrößen seine Predigt mit Rückkopplung ins Mikrophon.
Mein Hinterteil zwang mich zu einem Entschluss. Ich flüsterte Hilde Huberti zu, dass wir beim ersten Wechsel von Priesterworten zu Gesang den Rückzug in die zweite Reihe antreten sollten. Mir erschien es zwar einigermaßen unpassend, dennoch stieg ich der Einfachheit halber über das Bänklein nach hinten. Die Tatsache, dass der Priester den Segen für das Brautpaar aus einem Buche ablas, wobei er ihn sogar unterbrechen musste, um umzublättern, wie auch die weitere Tatsache, dass das Brautpaar zeitgemäß sein Ja-Wort nicht hatte auswendig lernen müssen, sondern von einem von Priesterhand hilfreich vorgehaltenen Blatte ablesen durfte, entbanden mich zunehmend von dem Schamgefühl über mein unangemessenes Verhalten und von der Unsicherheit, die mir Kirchenpracht noch immer einflößt.
Ich erwies mich bei Christophs kirchlicher Trauung als vollkommen unfähig, in mir ein feierliches Gefühl zu erzeugen. Zu sehr störten mich die technischen Pannen, zu unangebracht fand ich die Worte, die gesprochen wurden.
Ich konnte den Gedanken nicht unterdrücken, dass ich mich während der bevorstehenden Festivität damit beschäftigen müsste, die harte Schale von Evelines Schwester Rotraut zu durchbrechen, höhere Angestellte im väterlichen Betrieb, unverheiratet mit 32 Jahren und von der Stadt zur alten Jungfer gestempelt.
Vor der Kirche überschlugen sich dann Ausbrüche hochgradiger Bewunderung. Der kleine unbeholfene Priester wurde wortreich gelobt und die Schönheit sowohl des kirchlichen Aktes als auch des Paares laut gepriesen. Alles lächelte, denn man wurde fotografiert. Von nicht wenigen wurde es als spezielles Verdienst der Braut oder ihres Vaters angesehen, dass just in diesem Augenblick die Sonne durch die Wolken brach und der Szenerie den Anschein strahlender Harmonie gab.
"Ein herrliches Bild“ jubelten Kirchgänger und Schaulustige. "Ein glückliches Paar" sagten viele, die es besser wussten.
Hoch und heilig bei meiner Ehre und allen guten Geistern hatte ich mir geschworen, die Rolle eines unbeteiligten Beobachters beizubehalten. Dass mir das nicht geglückt war, begriff ich, als ich in den frühen Morgenstunden des Sonntags eine Viertelstunde lang unter der Dusche stand und heißes Wasser auf meine Haut prickeln ließ in dem dringenden Bedürfnis, mich von dem verlogenen Schleim zu reinigen, der sich meinem Gefühl nach stundenlang über mich ergossen hatte.
Obwohl es drei Uhr nachts war, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, die sauber- und daheimgebliebene Elke ans Telefon zu holen. Ich ließ den Apparat dreizehnmal klingeln und wollte schon wütend werden, als sich endlich die vertraute, wenn auch vor Gähnen und Müdigkeit heiser klingende Stimme meldete.
"Es war schrecklich." stöhnte ich. "Schlimmer als in deinen schlimmsten Träumen."
"Was weißt du denn von meinen Träumen?" entgegnete meine Frau. "Sag mir etwas Liebes!“ flehte ich.
"Ich bin viel zu müde." sagte sie. "Ich habe zu lange in die Röhre gestiert, um meine Sehnsucht nach dir zu betäuben."
Gerade wollte ich mich über diese Liebe begeistern, als sie fortfuhr: "Wie du weißt, sind die Kinder an einem verregneten Wochenende wie diesem unerträglich. Da sehnt sich der Mensch einfach nach einer Wachablösung. Dabei fällt mir ein," gähnte sie, "dass ich den Sonntag im Regen noch vor mir habe und nicht den ganzen Vormittag schlafen kann wie du.“
Ich fühlte mich zutiefst missverstanden, überwand mich aber zu einer Verabschiedung per Kuss durch das neutrale Telefon. Dann ging ich seufzend zu Bett. Die sanften Schaukelbewegungen, die ich verspürte, rührten sicherlich nicht von der Matratze, sondern von meinem Zustand her. In einem Anfall von Ehrlichkeit machte ich mir klar, dass ich Elke aus purem Egoismus geweckt hatte. Ich wollte sehen, ob wenigstens in meinem Heim die Welt noch in Ordnung war. Ich selbst hatte guten Grund zu einem schlechten Gewissen, waren doch die im Verlaufe des Abends und der Nacht von mir gestarteten Annäherungsversuche nicht meinetwegen unschuldig ausgegangen.
Die Burger-Familie hatte sich die Ehre gegeben, etwa hundert Bürger der Stadt und ihrer Umgebung zu einem Empfang zu bitten. "U.A.w.g." stand unter der Einladung.
Immerhin erkannte ich auf Anhieb, was sich hinter den Buchstabencode verbarg, und kam der Bitte um Antwort nicht nach. Das Stadtereignis fand in dem Ableger einer internationalen Hotelkette statt, der erst unlängst seine Pforten geöffnet hatte und an dessen Errichtung der Chef der Burger-Werke nicht unbeteiligt war, wie man mir im Folgenden so oft vertraulich mitteilte, dass ich es glauben musste.
Die Familie, reduziert um eine ihrer Töchter, nach der sich die Gäste den Empfang lang untereinander, aber nie bei den Gastgebern selbst erkundigten, und mein Bruder hatten sich am Eingang des Saales aufgebaut. Übrigens scheint es das einzige Mal gewesen zu sein, dass Christoph sich sozusagen im Familienkreis aufhalten durfte.
Es ging zu wie auf einem Neujahrsempfang. Hätten die Gäste diese Einschätzung meinerseits geahnt, wären viele aus Unkenntnis stolz gewesen. Ich kann einen Neujahrsempfang beurteilen, denn ich habe einmal von berufswegen an einem solchen Zeremoniell auf Regierungsebene teilgenommen. Der zuständige Kollege wie auch sein Vertreter und dessen Vertreter samt dem Stellvertreter waren ausgefallen, so dass ich in meiner Funktion als Vertreter des Letzteren ausgesandt wurde. Man begeisterte sich, einander zu sehen, wünschte sich das Beste vom Besten in wohlgesetzten Worten und teilte einander mit, wie angenehm diese Begegnung sei.
Ich staunte, dass die Wangen des jungen Paares noch keine konkaven Einbuchtungen aufwiesen, obwohl jeder seine Vertrautheit durch einen Wangenkuss demonstrierte. Man denke: Hundert Küsse und mehr!
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