Wir fanden, dass er mit seinem Protest recht hatte. Wir waren sowieso in einer Stimmung, in der wir Protest gut fanden.
"Ich habe Eveline gesagt," erklärte Christoph, "dass ich den Zirkus nicht mitmache. Daraufhin meinte sie, dann ich bräuchte gar nicht erst zum Standesamt zu kommen. Und ich erwiderte, dass sie folglich auch das Hochamt in der Kirche absagen könne. Sie begann zu heulen, und fast zeitgleich knallten wir die Hörer auf die Gabeln der Telefone. Das war heute früh. Inzwischen steht mein Entschluss fest: es wird nicht geheiratet!“
Wir suchten nach keinem anderen Standpunkt zu dieser Angelegenheit, sondern nach unseren Sektgläsern und stießen an. Wir kamen überein, dass Eveline, die ich noch nicht persönlich kannte, eine dumme Gans sei.
Wenn ich mich hier in die Pflicht nehme, aufzuschreiben und zu hinterlegen, was in den vergangenen Monaten in unserer Vaterstadt, die übrigens auch diejenige unserer Mutter war, mit meinem Bruder Christoph geschah, weil ich festhalten möchte für Kinder und Kindeskinder, warum und durch wessen Verschulden es zu diesen Geschehnissen kam, dann nehme ich mir zugleich die Freiheit, selbst zu bestimmen, unter welchen Gesichtspunkten ich mich mit den Vorgängen befasse. Man muss bedenken, dass ich dieses Unterfangen an meinen Feierabenden nach der täglichen Lohnschreiberei durchführe und mir deshalb jedes Mal von neuem einen gewissen Anreiz schaffen muss, mich nicht untätig vor den Fernsehapparat zu setzen.
Übergehen wir, dass der alte Burger persönlich zum Telefon griff, um seinen Nein sagenden Schwiegersohn in spe zu sprechen und die Heirat zustande zu bringen. Übergehen wir die Schrecknisse der standesamtlichen Trauung, die die erste Wiederbegegnung des Brautpaares nach dem bis dahin größten Krach brachte, und die Eiseskälte, in der anschließend im Hause Burger genau 85 Minuten lang Sekt und Sahneparfait gereicht wurden, wobei neben dem Eis nur die Disharmonie vollkommen war.
An diesem Tage waren weder mein Bruder noch seine Gattin für mich zu sprechen. Ehrlich gesagt, konnte ich nicht begreifen, warum hier geheiratet wurde. Keiner hatte Zeit, mir diese Fragen zu beantworten. So trottete ich sinnend durch die Straßen der Stadt.
Am nächsten Tag standen vor der Kirche viele Schaulustige. Die Burgers waren stadtbekannt, beachtet wegen ihres Vermögens, den Gerüchten ausgesetzt, wann immer sie Gelegenheit boten. Die Hochzeit war eine solche Gelegenheit. Man kam, um die Parade abzunehmen.
"Der Schwiegersohn ist ein Habenichts.“ wurde getuschelt.
"Er studiert noch." wussten andere.
"Sie soll schwanger sein."
"Das werden wir ja sehen, ob sie heiraten müssen."
"Vielleicht sieht man es noch nicht!"
“Ich sehe so etwas!“ behauptete eine füllige Dame gegenüber einer ebenfalls fülligen Dame. Beide mit Hut über dem Kostüm, ein Unterarmtäschchen unter den Oberarm geklemmt, große Brillen mit modischen Gestellen auf der Nase, die die sich ausbreitende Faltenlandschaft großflächig verdeckten und nur die bewegte Mundpartie freiließen. Ich stand, mit mir selbst eine Gruppe bildend, neben den Damen.
“Ich sehe es an der Nase“, betonte die Wortführerin, "ob eine schwanger ist. Die Nase wird dann nämlich spitz.“
Gerade lobte ich im Stillen meine Einsamkeit, die mir Gelegenheit bot, schweigend zu beobachten, als die Welle der nichtssagenden Höflichkeiten auch mich erreichte. Vor dem Trauzeugen, einem guten Bekannten der zu früh verstorbenen Eltern, half es nichts, dass ich mich in den ungewohnten Nadelstreifen wie unter einer Tarnkappe fühlte. Meine allmählich gerundete Männlichkeit an der Schwelle der besten Jahre machte mich für viele zum Unbekannten, die nur den schmächtigen, verlegenen Jüngling aus der ersten Hälfte meines bisherigen Lebens kannten.
Herr Doktor von Meierbeer stieß plötzlich zu mir vor und begrüßte mich stimmgewaltig. Blicke trafen mich. Überdeutlich erreichte mich das Gezischel der neben mir ausharrenden Beobachterinnen: "Sehen Sie nur, er hat ein Loch im Strumpf! Zur Hochzeit ein Loch im Strumpf!“
"Dabei ist er der Trauzeuge." wusste die eine der vollschlanken Kaffeehaus-Freundinnen.
"Naja, die Frau ist ihm davongelaufen." ergänzte die andere.
"Und das schon vor Jahren." folgte sogleich gut informiert. "Komisch, dass er keine neue gefunden hat.“ wunderte sich die ansonsten Allwissende.
"Psst!“ wurde sie statt einer Entgegnung gemahnt.
"Dort kommt seine Mutter, die Rätin von Meierbeer".
„Sie muss mindestens 80 Jahre alt sein, die Rätin von Meierbeer.“
Genüsslich saugten sie Titel und Adelsprädikat in sich hinein und stießen sie wieder aus, obgleich - wie ich wusste - in diesem Land die Von- und Zu-Bezeichnungen per Gesetz abgeschafft worden waren. Vielleicht ließen sie sich gerade deswegen nicht ausmerzen.
Der Doktor begrüßte mich überschwänglich. Er erkundigte sich in einem einzigen Atemzug nach der Frau, den Kindern, dem Beruf und meinen Überlegungen, die Zukunft betreffend. Während ich noch unentschieden war, ob er meine persönliche Zukunft oder die der Menschheit meinte, und zögerte, welche Frage ich zuerst beantworten sollte, ließ er seinen wissenden Blick in die Runde schweifen, winkte einigen Bekannten mit lässiger Geste, und ich begriff, dass er an einer Antwort gar nicht interessiert war und eine ernsthafte als lästig und störend empfunden hätte.
Inzwischen traten die herbeigewinkten Personen zu uns und begannen mit dem Herrn Doktor ein Begrüßungszeremoniell, als sei man sich im vergangenen Jahrhundert das letzte Mal begegnet und nicht vorvorgestern auf der Geburtstagsfeier für die von allen hochverehrte Tante Grete - oder was auch immer der Anlass gewesen sein mochte, seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen nach- zukommen.
In der richtigen Annahme, dass ich die Leute nicht einsortieren konnte, wurden sie mir vorgestellt. Wie galant hätte ich agieren können, hätte ich als Kind nicht der Erwachsenenmacht getrotzt und ihrem Versuch widerstanden, mich zum Handkuss zu dressieren.
Nun stand ich stocksteif unter all den höflichen Menschen und murmelte als Antwort auf Namen und Titel nichts weiter als: "Anders".
Mein Name veranlasste zum allgemeinen Ah-Sagen, dem die Erkenntnis folgte: "Sie sind der Bruder."
Ich war der Bruder, und mein normales Jeans-Ich schwebte hämisch grinsend über mir und amüsierte sich auf meine Kosten. Die Umstehenden bemerkten nichts von diesem Zwiespalt, sondern lobten mit großem Ernst und Anstand mein bisheriges Wachstum und das damit verbundene Aussehen.
Aus Hilfslosigkeit reckte ich den Hals und spähte nach meinem Bruder. Der Bräutigam im Smoking mit einer weißen Nelke im Knopfloch, deren Stiel nach längerer Debatte brutal mit einer Sicherheitsnadel durchbohrt und befestigt worden war, hatte sich, als wir uns zu Fuß der Kirche näherten, die in der Fußgängerzone lag, sofort zu einer Kleinstdelegation von Kommilitonen begeben und harrte dort schutzsuchend aus. Meine Fürsorge lehnte er ab, da ich mich nicht in der Lage gezeigt hatte, seinen schnellen Sinneswandel hinsichtlich der Heirat nachzuvollziehen.
Die befreundete Dame, die sich als Vertretungsmutter für uns zuständig fühlte, beendete gerade ihre Pirsch durch die Menge und gesellte sich zu mir, ihre Aufregung kaum verbergend. Sie drängte sogleich darauf, in die Kirche zu gehen. Übrigens müsse der Bräutigam selbstverständlich vor der Braut hineingehen, weil er sie ja erst sehen dürfe, wenn sie von ihrem Vater vor den Altar geleitet werde.
Ruhig, aber wiederum viel zu laut widersprach Doktor von Meierbeer: "Wir stürmen nicht als erste in die Kirche, verehrteste Freundin. Immer gemach!“ Er war groß und gewichtig, und obgleich nur von der Statur her, gab er sich stets auch so.
Plötzlich ging ein Raunen durch die Menge. Die Braut war mit ihrer Familie eingetroffen. Alle sechs Burgers lächelten kopfnickend zur Masse hin. Ich weiß nicht, ob es mein Vorurteil war, oder ob ihnen ihr Geld beim Nicken tatsächlich etwas Huldvolles verlieh.
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