Eine Woche später nahm ihn Opa Willy zur Belohnung für seine außerordentliche Leistung mit nach München an ein Symphoniekonzert.
Lars staunte nicht schlecht, als er seinen Großvater in einem Anzug mit Krawatte erblickte, der ihm zwar überhaupt nicht stand, weil er ihn sich bloß ausgeliehen hatte. Trotzdem hinterließ die Aufmachung bei dem Jungen einen tiefen Eindruck.
»Aber Opa«, meinte er. »So zieht Papa sich doch nur an, wenn wir in die Kirche gehen.«
»Man wählt die feinste Kleidung aus, wenn man ins Konzert geht, mein Junge. Du wirst sehen: Die Leute werden alle so angezogen sein. Mutter hat dir auch deine schönsten Kleider bereitgelegt. Geh schon, zieh dich an, sonst verpassen wir den Bus.«
Auch im Konzertsaal kam Lars aus dem Staunen nicht heraus. Da es im Hause van Loon immer noch keinen Fernseher gab, hatte er eine solche Veranstaltung noch nie von der optischen Seite wahrnehmen können und bombardierte Opa Willy mit Fragen:
»Weshalb sitzen alle Leute so still da? Das ist ja wie in der Kirche. Freuen die sich denn nicht?«
»Warum tragen die Musiker alle so einen komischen Anzug? Die sehen ja aus wie Pinguine.«
»Was macht der Mann da vorne mit dem Stäbchen? Und weshalb steht der, wenn alle anderen doch sitzen?«
»Warum klatscht denn niemand?« Eine berechtigte Frage, die Lars zwischen zwei Sätzen stellte.
»Weshalb schauen alle so ernst drein?«
Während er all die vielen Fragen stellte, die ihm auf der Zunge brannten, stellte er die ärgerlichen und vorwurfsvollen Blicke rund um ihn herum fest, und Opa Willy wies ihn schließlich darauf hin, dass in der Pause genug Zeit vorhanden wäre, um Antworten zu geben.
»Hör doch einfach zu, Bub«, flüsterte er ihm ins Ohr. »Dafür sind wir nämlich da!«
So vertiefte sich Lars in das Klavierkonzert von Schumann, das er von den Aufnahmen, die Opa Willy ihm vorgespielt hatte, bereits kannte. Staunend lauschte er den Klängen, die so ganz anders tönten als auf den Kassetten, viel unmittelbarer, viel mächtiger, viel eindringlicher. Er konnte die Musik fühlen und hatte die vielen Fragen, die ihn noch vor wenigen Augenblicken gequält hatten, rasch vergessen. Es kam ihm vor, als ob er in einem See baden würde, allerdings war es nicht Wasser, sondern die Musik, die seinen Körper umsäumte, kräuselte und für sich einnahm.
Der Solist spielte seinen Part abwechslungsweise so innig, mal kräftig, dann wieder verträumt und zärtlich und mit einer Sicherheit und Selbstverständlichkeit, die Lars nicht einmal bei Herrn Steinmeyer so gesehen hatte.
Und dann der Klang! Diese Töne! Wenn Lars die Augen schloss, dann war es nicht nur das Wasser, in dem er schwebte, sondern er glaubte, über sich ein ganzes Himmelszelt zu erblicken, an dem die Sterne golden funkelten und sich zu einer Einheit formierten, die seinen ganzen Körper erschaudern ließ. Er hatte das Gefühl, sich in der Gegenwart zu verlieren und sie gleichzeitig mit einer Intensität zu fühlen, die er bisher noch nie so erlebt hatte.
Und dann, in der Pause, hatte Lars endlich die Gelegenheit, die unzähligen Fragen, die ihn im Konzertsaal beschäftigt hatten, endlich loszuwerden. Gierig sog er die Antworten seines Opas in sich auf, und jede Erklärung zog weitere Fragen nach sich, sodass Willy seinen Enkel beinahe auf den Sitz zurückprügeln musste. Und auch dort sprudelte es aus dem Kleinen nur so hinaus. Jede Beobachtung, jedes Detail musste erklärt werden, und erst als der Dirigent zurück aufs Podest kam, verstummte Lars und war gespannt, wie es weitergehen würde.
Für den zweiten Teil des Konzerts stand Beethovens Fünfte auf dem Programm, ein Stück, das Lars im Schweinestall schon oft gehört hatte und zu dessen mitreißenden Themen er dort stets aufgeregt herumgehüpft war. So fiel es ihm noch viel schwerer, ruhig sitzen zu bleiben, denn die Musik entfaltete seinen Bewegungsdrang. Am liebsten wäre er aufgestanden, seinen Opa an den Händen gepackt, mitgesungen und getanzt. Er war erstaunt darüber, wie die Zuhörer scheinbar emotionslos auf ihren Sitzen saßen und die Musik über sich hinwegfluten ließen.
Im zweiten Satz dann allerdings, im wunderbaren Andante con moto, war er auch ganz in sich versunken und lauschte atemlos dem herrlichen Melodienreichtum, den Beethoven komponiert hatte.
Als er sich einmal zu seinem Sitznachbarn drehte, stockte ihm tatsächlich der Atem, und er beobachtete fasziniert, wie diesem eine Träne die Wange runterlief. Sofort wandte er sich an seinen Großvater und zupfte ihn aufgeregt am Ärmel.
»Opa, Opa.«
»Pst, Lars.«
»Aber es ist wichtig.«
»Nichts ist so wichtig, als dass wir nicht nachher darüber sprechen können. Hör gut zu.«
»Aber der Mann neben mir ...«
»Lars, bitte.«
Die Köpfe in der vorderen Reihe drehten sich zu ihnen um, doch Lars nahm keine Notiz davon.
»Der Mann. Es geht ihm nicht gut. Er weint.«
»Sei still.«
»Müssen wir ihm nicht helfen?«
»Nein, bestimmt nicht.«
»Pst«, kam er ärgerlich aus der vorderen Reihe. Köpfe wurden geschüttelt.
Lars konnte sich nicht mehr erholen, und er wollte bereits dem weinenden Mann seine Hilfe anbieten, als dieser mit dem Handrücken über die Augen wischte und mit einem tiefen Seufzer und einem seligen Lächeln die Hand seiner Sitznachbarin ergriff.
Opa Willy legte den Arm über Lars’ Schulter und flüsterte ihm zu:
»Wir dürfen die Zuhörer nicht stören, mein Kleiner. Hör dir die Musik gut an. Wir können nachher darüber sprechen.«
Lars nickte und warf seinem Nachbarn noch den einen oder anderen verstohlenen Blick zu. Spätestens beim majestätischen Finale hatte die Musik dann wieder komplett Besitz von ihm ergriffen, und jubelnd stimmte er in den aufbrausenden Applaus ein, als der Schlussakkord des Werkes erklungen war.
Fasziniert beobachtete er, wie der Dirigent immer wieder zurück auf die Bühne kam, eifrig die Hände der Orchestermusiker schüttelte und sich feiern ließ.
Doch als sie vor dem Konzerthaus standen, fiel ihm wieder der weinende Mann von nebenan ein, und die Fragen sprudelten aus ihm heraus.
»Schau, Lars«, begann Opa Willy, und es war ihm anzumerken, dass er nach den richtigen Worten suchte. »Die Musik hat dem Mann so gut gefallen, dass ihm die Tränen gekommen sind.«
»Aber man weint doch nicht, wenn man glücklich ist.«
»Doch, mein Kleiner. Die Musik hat ihn so stark ergriffen. Er war überwältigt, daher die Tränen.«
»Das verstehe ich nicht. Was meinst du mit ergriffen?«
Opa Willy seufzte.
»Das ist sehr schwierig zu erklären. Wenn man das nicht selber einmal erlebt hat, kann man das fast nicht verstehen.«
»Hast du auch schon einmal wegen der Musik geweint, Opa?«
»Aber natürlich.«
»Aber wieso denn?«
»Musik ist wie eine Sprache, Lars. Ich kann dich mit einem lustigen Witz zum Lachen bringen. Oder wenn ich mir dir schimpfe oder mir eine verletzende Bemerkung rausrutscht, dann weinst du. Du reagierst auf das, was ich dir sage. Und diese Wirkung hat die Musik ebenfalls. Im Gegensatz zu einer Sprache wird sie allerdings auf der ganzen Welt verstanden.«
»Du meinst also, mit Musik kann man Menschen eine Freude bereiten?«
»Natürlich, Lars. Wir freuen uns zu Hause ja auch, wenn du uns etwas auf dem Klavier vorspielst. Oder Herr Steinmeyer reagiert in den Stunden auch auf deine Übungen und Sonaten. Und ich kann dir versichern, dass ich auch schon eine Träne vergossen habe, wenn ich dir zugehört habe.«
»Aber das ist ja wie Zauberei.«
»So kann man’s natürlich auch sehen.« Opa Willy wuschelte Lars durchs Haar.
»Also sind die Musiker auf eine Art große Zauberer.«
»Richtig, mein Kleiner.« Ein Strahlen lag auf Willys Gesicht, und Lars lachte zurück.
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