„Wie viel?“
„Ungefähr fünfzigtausend Dollar. Sie können auf der St. George Bank nachfragen.“
Shane ließ den Blick nicht von ihm. War Hall von Romaine irgendwie abhängig? Sexuell?
„Haben Sie eigentlich nie darüber nachgedacht, dass Romaine mit Ihnen nur etwas angefangen hat, weil sie an Ihr Geld wollte?“
Hall lächelte verkrampft.
War das Liebe? Oder wollte er einfach nicht der Wahrheit ins Gesicht sehen? Auf Halls Schreibtisch bemerkte Shane einen Plexiglasbehälter mit einem Stapel jener Notizzettel, die dem ähnelten, auf dem Romaine ihre Nachricht hinterlassen hatte. Aus einem Porzellanbecher ragten Stifte heraus. Spurensicherung und Schriftexperten würden untersuchen, ob die Nachricht mit einem dieser Kugelschreiber und auf diesen Notizzetteln geschrieben worden war.
„Ach ja“, sagte Hall auf einmal zögernd. „als ich am Montag ins Büro kam, war das Schloss außen an der Tür zum Parkplatz beschädigt.“
„Romaine hatte doch sicher einen Büroschlüssel? Wenn sie die Diebin war, dann musste sie doch nicht einbrechen.“
„Das ist ja das Merkwürdige!“ Alan Hall runzelte die Stirn. „Das Schloss war auch nur beschädigt, aber nicht aufgebrochen!“
Shane ging mit ihm zur Tür.
„Sehen Sie?“ Hall drehte den Schlüssel hin und her. „Das Schloss schließt genauso wie vorher.“
Shane bückte sich und betrachtete das Schloss. Tiefe Kratzspuren waren dort in der Holztür zu erkennen. So, als ob jemand mit einem scharfen metallenen Gegenstand das Schloss hatte herausbrechen wollen.
„Vielleicht waren die Spuren ja schon vor jenem Samstag dort?“, gab Shane zu bedenken.
„Das wäre mir mit Sicherheit aufgefallen! Ich schließe doch jeden Abend hier ab. Die Lampe über der Tür leuchtet genau auf das Schloss, das habe ich so einrichten lassen.“ Hall schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, ich bin ganz sicher, die Kratzer waren noch nicht da.“
Shane bestellte die Spurensicherung ins Earl’s . Die Kollegen sollten den Safe untersuchen, das Türschloss und das Büro.
Der Außenthermostat im Auto zeigte sechsunddreißig Grad Hitze – und im Auto ohne Klimaanlage waren es mindestens fünf Grad mehr.
„Erkundige dich doch mal bei der St. George Bank über Romaines finanzielle Situation“, bat er Tamara als er zurück ins Büro kam und berichtete ihr kurz von seinem Gespräch mit Hall.
„Und, ist er noch verdächtig?“
„Wir haben gegen Alan Hall im Moment nichts in der Hand. Aber ich trau dem Typen nicht.“
„Du magst ihn nicht, das ist es“, bemerkte Tamara knapp, gerade als Herb Kennedy kam mit einer Tüte von der Bäckerei hereinkam.
„Dachte, Sie könnten was zu essen gebrauchen.“
Er wirkte übermüdet. So sahen Männer aus, die die ganze Nacht mit ihrer Frau Streit hatten, dachte Shane.
„Wie läuft’s?“ Herb setzte sich und Shane berichtete von der Wendung, die der Fall genommen hatte.
„Hm. Ich kenne diesen Alan Hall nicht persönlich. Er hat seit ungefähr drei Jahren das Restaurant. Becky und ich waren vielleicht zweimal dort essen. Feine Küche, aber zu steife Atmosphäre für meinen Geschmack.“ Herb nahm eine Pastete. „Zwanzigtausend Dollar, Liebe hin oder her, das ist ein Batzen Geld! Da muss die Liebe ja schon groß sein, wenn man das Geld so schnell abschreibt.“
„Was meinen Sie, könnte er’s getan haben?“ Shane nahm sich nun doch auch eine Pastete aus der Tüte, obwohl er eigentlich keine Meatpies mochte. Herb schluckte den Bissen hinunter und ließ die Schultern kreisen, die das Kurzärmelhemd jeden Moment zu sprengen drohten.
„Keine Ahnung.“
„Sie sind mir `ne schöne Hilfe, Herb!“ Shane schob sich den Rest der Pastete in den Mund. Ausgerechnet in dem Moment läutete das Telefon, und er gab Herb ein Zeichen abzunehmen.
„Die Spurensicherung“, sagte Herb und reichte Shane den Hörer. Man hatte an Haut, Haaren und Kleidung der Leiche Schafhaare, Reste von Öl und Styropor nachgewiesen. Hundertzwanzig Meter vom Ablageplatz der Leiche entfernt, auf einer Lichtung, die über einen schmalen Weg von der Straße aus erreichbar war, hatte man folgende Dinge gefunden: eine leere Filmdose, Reifenabdrücke und einen Nylonstrumpf mit Lippenstiftspuren.
„Und dann“, ergänzte der Mitarbeiter, „haben wir noch etwas anderes Interessantes entdeckt. Ein paar Haare am Strumpf. Eins steht fest: es sind nicht die der Leiche, aber die DNA-Analyse dauert noch.“
„Die reinste Fundgrube - dieses Chinchilla“, murmelte Shane als er auflegte. „Filmdose? Hat Jane Denham dort fotografiert?“
„Das werden wir gleich in Erfahrung bringen“, sagte Tamara und stand auf.
Schon längst säße Joanna im Auto und wäre auf dem Weg nach Hause. Aber es zog sie nicht nach Hause – und die Ahnung von einem Geheimnis, das der Junge in seinem Innern einschloss, ließ sie nicht los. Sie stand vor der weißen Tür seines Zimmers und zögerte, hineinzugehen. Schließlich klopfte sie doch und trat ein. Er wendete sich zu ihr, zeigte aber keine Anzeichen von Begrüßung oder Freude.
Zu ihrer Überraschung saß er nicht im Bett sondern am Tisch. Heute trug er statt des blauen Jogging-Anzugs khakifarbene Shorts und darüber ein weißes T-Shirt mit einer Superman-Figur darauf. Sein braunes Haar sah zwar gebürstet aus, stand aber in alle Richtungen ab. Sie glaubte ein wenig mehr Zutrauen in seinen braunen Augen mit den langen Wimpern zu erkennen.
„Hallo, darf ich mich zu dir setzen?“, fragte sie.
Er erwiderte nichts, schüttelte auch nicht den Kopf und so nahm sie an der kurzen Seite des Tischs platz. Jetzt bemerkte sie, dass er einen Stift in der Hand hielt und vor ihm eine Serviette lag, auf die er drei Buchstaben gezeichnet hatte. ASH.
„Ist das ein Name?“, fragte Joanna, „dein Name?“
Seine dunklen Augen sahen in ihre. Langsam schüttelte er den Kopf. Und nach ewigen Minuten, so kam es ihr vor, sagte er:
„Max.“
Hatte er sich eben an seinen Namen erinnert?
„Max? Heißt du Max?“
Vorsichtig nickte er, als begriffe er erst jetzt, was er gesagt hatte.
„Max – und weiter?“
„Ash“, flüsterte er, doch sein Gesicht verschloss sich wieder.
„Max... Ash?“ Sie ließ ihn nicht aus den Augen.
Einen Moment überlegte er, wiederholte murmelnd, „Max Ash“. Doch dann schüttelte er den Kopf und sagte mit bestimmter Stimme: „Max.“
Er hieß also Max, aber ASH gehörte offenbar nicht zu seinem Namen.
„Ash...“ wiederholte er.
Sein Blick kehrte sich nach innen. Langsam stand er auf, legte sich ins Bett und zog die Decke über den Kopf. Sie spürte ein Unbehagen in sich aufsteigen.
Jane Denham wohnte in einem nüchternen, irgendwie einsam wirkenden Holzhaus. Als Shane und Tamara klingelten, erschien sie mit einem Turban aus einem schwarzen Handtuch hinter der Fliegentür.
„Wir haben noch ein paar Fragen, Mrs. Denham“, begann Shane woraufhin Jane grußlos die Fliegentür aufdrückte. Ihre silbergrauen Augen wirkten heute weniger leuchtend, ein wenig müde. Harvey kam aus dem Garten angerannt, bellte und wedelte freudig mit dem Schwanz.
„Ich wüsste nicht, wie ich Ihnen noch helfen könnte“, sagte Jane, „ich war gerade im Bad ...“
„Wir halten Sie bestimmt nicht lange auf.“ Tamara lächelte höflich und ging ins Haus. Shane folgte ihr. Harvey nutzte die Gelegenheit aus und schlüpfte schnell zwischen ihren Beinen hindurch.
„Das Haus ist nicht gerade mein Stil“, erklärte Jane, als müsse sie sich entschuldigen, „aber wenn man so schnell was zum Wohnen braucht... Wollen Sie was trinken?“
Der Teppichboden war abgetreten und an den fleckigen Wänden hingen gerahmte Landschaftsfotos. Rote Ebenen im Sonnenuntergang, tiefgrüne sanfte Hügel, über die der Wind strich, Pferde, Pferde und nochmals Pferde.
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