Paul Scheerbart
Immer mutig
Ein phantastischer Nilpferdroman mit 83 merkwürdigen Geschichten
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Inhaltsverzeichnis
Titel Paul Scheerbart Immer mutig Ein phantastischer Nilpferdroman mit 83 merkwürdigen Geschichten Dieses ebook wurde erstellt bei
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Impressum neobooks
Ich hatte mich verstiegen.
Und das kam mir so selbstverständlich vor.
So mußte es kommen.
Jetzt konnte ich nicht mehr weiter; rauf ging's nicht mehr und
runter auch nicht.
Allerdings – runter wär's wohl gegangen – runterkommen
kann man immer.
Aber die Sache hatte einen Haken.
Neben mir ging's hinunter in die Tiefe – da hätte ich mich
kopfüber hineinstürzen können – doch bei dem Sturz wäre mir
wohl der Atem vergangen – und mein Körper wäre wohl zu Brei
geworden.
Ich befand mich in einem Gebirge, das aus hartem Stein
bestand.
Es tat mir schon leid, daß ich so rücksichtslos immer höher
gestiegen war.
Ich starrte die glatte Felswand vor mir nicht sehr geistreich an;
in die grausige Tiefe wagte ich nicht hinabzublicken, denn ich
glaubte, nicht ganz schwindelfest zu sein.
Und siehe, da hob sich vor mir in der glatten Felswand eine
Platte heraus und schob sich zur Seite, und ich erblickte in der
entstandenen Öffnung ein kleines Nilpferd, das kaum halb so groß
war als ich selbst.
»Na, Onkelchen,« sagte das Nilpferd, »wohin willst Du?«
»Ich habe mich verstiegen!« erwiderte ich traurig.
»Das merkt'n Pferd!« rief da das Nilpferdchen. »Tritt nur
näher! Oder – willst Du abstürzen?«
»Nein! Nein!« sagte ich schnell.
Und ich folgte dem kleinen Tier, das eine Lampe anzündete
und mich durch einen Felsengang führte ... Nach ein paar
Augenblicken stand ich in einem sauberen Felsensaal.
Oben in den hohen, schwarzen Gewölben brannten weiße
Ampeln aus Milchglas; Birnenform hatten die Ampeln – die
Stengel hingen unten als dicke Schnüre.
Jetzt erst bemerkte ich, daß das kleine Nilpferd, das wie ein
Mensch auf den Hinterbeinen ging, einen dunkelblauen Flanellrock
anhatte; der ließ nur den Kopf und die vier Füße frei.
»Nimm Platz!« sagte das Nilpferd, und es setzte sich auf einen
Schaukelstuhl. Ich setzte mich neben dem großen grünen Ofen auf
eine Holzbank.
Eine dunkelgraue Plüschdecke war über den ganzen Fußboden
gespannt.
Von Möbeln sah man nicht viel; es schien eine Art
Empfangsraum zu sein.
Es war mir aber außerordentlich gleichgültig, wo ich mich
befand; ich war müde und abgespannt und durchaus nicht froh über
meine Rettung.
»Dir ist wohl nicht ganz wohl!« sagte das Nilpferdchen nach
einer Weile.
Und ich erwiderte hastig:
»Wenn das nicht stimmt – dann weiß ich nicht mehr, wie viel
drei mal drei ist.«
»Die Antwort,« flüsterte mein Retter, »ist von einer geradezu
seltsamen Bestimmtheit.«
Ich starrte den hohen, grünen Ofen an und war stumm wie ein
Stockfisch.
Wir hörten im Hintergrunde langsam eine große Uhr ticken
und rührten uns nicht.
So mochten wir wohl eine gute halbe Stunde gesessen haben, als
das Nilpferdchen leise fragte:
»Hast Du vielleicht ein Manuskript bei Dir, das recht traurig
stimmt? Du hast doch sonst immer Manuskripte bei Dir.«
Ich drehte den Kopf langsam um, sah das Nilpferdchen groß an
und sagte unsicher:
»Woher weißt Du denn, daß ich sonst immer Manuskripte bei
mir habe? Ich muß mich doch wundern.«
Da sprang das Nilpferdchen von seinem Schaukelstuhl auf und
hopste im Felsensaal herum und rief laut:
»Er muß sich doch wundern! Er muß sich doch wundern! Daß
ein redendes Nilpferdchen ihn gerettet hat – das wundert ihn nicht.
Aber daß das Tierchen so viel weiß – das wundert ihn.«
Und dann sprang das kleine Vieh ganz dicht an meine Seite
und sprach im tiefsten Baß:
»Ich freue mich ganz eklig, daß Du Dich noch wunderst. Leute,
die sich noch wundern können, sind noch nicht ganz tot. Und daß
Du noch nicht ganz tot bist, das ist sehr gut. Denn – wärest Du
ganz tot, so hätte ich's bedauern müssen, Dich gerettet zu haben;
Leichen rettet man doch nicht.«
Ich blickte dem Nilpferdchen ins Gesicht und wunderte mich
jetzt, daß es so gut reden konnte. Und ich fragte leise und höflich:
»Was soll ich tun?«
»Gib mir,« antwortete das Tier, »eine Geschichte zu lesen, die
recht traurig stimmt.«
Da suchte ich denn in meinen Taschen und blätterte in allen
meinen Sachen, schüttelte oft den Kopf und gab dem freundlichen
Nilpferd schließlich eine Geschichte, die mir in diesem Falle zu
passen schien.
Das kleine Tier setzte sich eine blaue Brille auf, ging mit
meinen Blättern wieder zum Schaukelstuhl, ließ sich auf diesem
vorsichtig nieder und las:
Lichtwunder
Nacht! Nacht!
Lauter dunkle, schwarze Räume.
Ich schwebe so dahin und weiß nicht, wo ich bin –
aber ich schwebe in der unendlichen Finsternis ruhig
weiter.
Da zuckt was in der Ferne auf – ein kleines
Pünktchen Licht!
Und nun weiß ich, wo ich mich befinde – ich fliege
durch jene große Nachtkugel, die weit hinter dem leeren
Raume mitten im großen Lichtmeere schwimmt, das in
jedem Atome so hell ist wie eine echte Sonne ohne
dunklen Kern.
Es gibt im Lichtmeere viele hohle Nachtkugeln – aber
meine Nachtkugel ist die dunkelste.
Und doch – es ist nicht Alles so dunkel, wie's aussieht.
Da drüben der Lichtpunkt wird immer größer – und
jetzt schießen zwei feine Lichtkegel, die so schwanken, an
mir vorüber.
Und – in den Lichtkegeln?
Lichtwunder!
Da fängt es gleich zu leben an – Milliarden zierliche
Flügelchen glitzern und flimmern – und leben – einen
kurzen – aber seligen – Lichttag.
Und nach dem schwebe ich wieder in der unendlichen
Finsternis.
Es dauert aber nicht lange – und von neuem schießt
aus einem Spalt der Kugelschale ein linsenförmiger
Lichtstreifen – breit wie ein Schwert.
Und wie vorhin lebt gleich in dem Lichtstrahl was auf
– eine wilde Weltenjagd – unzählige kleine schillernde
Blasen – dies Mal sind's lauter Welten mit edelstem
Weltengewürm.
So ist das Dasein im großen Reiche der Nacht.
Es wird immer wieder hell.
Und die Lichtstrahlen erzeugen mit immer wieder
frischer Kraft unzählige Lichtwunder – Engel und Sterne,
Fledermäuse und Paradiesvögel – Diamanten und
Weltgestalten in immer neuer Lichtwunderform.
Ich weiß: unsre Augen könnten das Lichtmeer
draußen nicht ertragen – wir würden draußen erblinden –
daher die schützende Kugelschale.
Aber unsre Augen sind nicht schlechte Augen – sie
sind nur so fein und empfindlich, daß die dämpfende
Nacht die feinen empfindlichen Augen immer wieder
stärken muß – zum Genuß der ewigen Lichtwunder in
der Nachtkugel.
Augen, die draußen das Lichtmeer ohne Schaden
ansehen können, sind schrecklich grob.
Das Nilpferdchen hatte beim Lesen auf jeder der beiden dicken
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