Häringe zu Mittag aß.
Früher war sie eigentlich stets so recht lustig gewesen
– so seelenvergnügt.
Das war jetzt Alles so anders geworden.
Seit drei Tagen war die Lotte die richtige
Kummerlotte geworden. Wie kam das?
Die Nähmaschine stand seit drei Tagen still.
Und das Unglück? Wie sah's denn aus? Oh – es sah
merkwürdig gut aus – das Unglück. Andere Menschen
hätten das Unglück ein großes Glück genannt.
Die arme Lotte hatte geerbt – zweimal!
Zweimal geerbt in drei Tagen!
Von einem alten Großonkel hatte sie zehntausend
Thaler geerbt – und von einer Kusine dreihundert Thaler.
Das war das Unglück!
So sah Lottens »Unglück« aus!
Traurig schaute die Kummerlotte ihre Resedabüsche
an – ihr traten ganz dicke Thränen in die Augen.
Die Leute im Hause schüttelten den Kopf und
meinten, bei dem guten Mädchen sei's da oben nicht ganz
richtig.
»Dumme Trine!« riefen die beiden heiratsfähigen
Töchter des Hauswirts.
»Kummerlotte!« riefen die Gassenjungen.
Sie aber sagte nichts dazu, sie gab keine Erklärung –
sie seufzte und schloß sich ein.
Da saß sie nun am Fenster in der Morgensonne und
grübelte.
»Das Geld ist mein Unglück!« flüsterte sie immer
wieder.
»So lange ich kein Geld hatte,« meinte sie so recht
vergrämt, »war ich immer frisch und jung. Doch wie das
Geld kam, war meine Jugend fort. Muß ich da nicht
traurig sein? Kann mir das Geld das traurige Gefühl
ersticken? Ach ja – es ist nicht angenehm, wenn man
merkt, daß man alt geworden ist. Es kam so plötzlich –
als ich nicht mehr arbeiten brauchte – und über alles
nachdachte.«
Sie nahm ihren Wandspiegel und betrachtete
kummervoll ihr Gesicht! Alt sah sie eigentlich noch nicht
aus – und doch – sie fühlte, daß sie's war.
Niemand verstand die Kummerlotte.
Sie aber verstand sich.
Und abermals sprang das Nilpferdchen auf, trampelte wild im
schwarzen Felsensaale herum und hielt dann wieder eine Rede.
»Onkelchen,« sagte es, »über die Vorteile, die die Armut bietet, ist
schon so viel gesagt worden, daß es bald wirklich Not tut, die
Vorzüge des Reichtums zu verteidigen und ein bißchen in Schutz
zu nehmen; die reichen Leute bedauern sich schon ein wenig zu viel;
so furchtbar schlimm ist der Reichtum doch auch nicht. Wenn die
Verherrlichung der Armut so große Dimensionen annimmt, so
brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn sich schließlich die
bedauernswerten Geldbesitzer zusammentun und sich gegen die
protzenhafte. Alles unterdrückende Macht der armen Leute
empören. Das gäbe dann eine nette Bescherung. Das wäre eine
schöne Revolution. Wer die Verhältnisse in Europa so gut kennt
wie ich, wird eine solche Revolution gar nicht für unmöglich halten.
Das Ridiküle ist tatsächlich das Modernste. Manche Leute, denen
das Verschleiern und Umdrehen zur Gewohnheit geworden ist,
verdrehen die Dinge so lange – bis sie selber verdreht werden. Die
Reichen sind wirklich auf das Glück der Armen viel neidischer als
man glaubt – und demnach ist es wohl geboten, den Kurs der
sozialen Poesie wieder etwas zu ändern. Doch davon brauchen wir
eigentlich nicht so viel zu reden. Wichtiger ist Dein Teufel der
Lebensmüdigkeit, der Gurgeln abschneidet und sich selber nichts
abschneiden läßt.«
Ich wollte wieder was sagen, doch das kleine Tier fuhr eifrig fort:
»Bedenke, daß die einfache tierische Luft bloß ein einfacher
Lebensreizer ist, der nur einfachen Lebewesen zum Weiterleben
genügenden Anreiz verschafft. Wer nur ein bißchen höher hinaus
will, wird durch die einfachen Lebensreizer – wie da sind:
Schinken, Champagner, Chansonette, Leberwurst und Paprika –
nicht am Leben erhalten. Der höhere wendet sich an Kunstspäße
ernster Güte, an Philosophie und überirdische Herrlichkeit. Diese
letzteren Dinge ziehen schon mehr an. Indessen – Rückfälle in die
gewöhnliche Schinkenluft kommen immer wieder vor. Und wenn
diese Rückfälle zu oft vorkommen, so wird der Weg zum höheren
zu mühsam, und das arme Lebewesen steht dann zwischen zwei
Bündeln und – verhungert beinahe. So ungefähr gelangt die
Lebensmüdigkeit in unsre Erscheinungswelt; das Eine genügt nicht,
und das Andre ist nicht zu erreichen. Ich spreche, wie Du merken
wirst, ganz wie Deinesgleichen, nicht wahr? Na ja! Nun muß man
aber doch, wenn man ein bißchen vernünftig ist, zugeben, daß man
nicht so ohne Weiteres zwei Herren dienen kann. Entweder – man
steigt, so gut man kann, über die simplen Luftspäße hinweg in die
höheren hinein – oder – ja! da liegt der Hase im Pfeffer! Wenn
man mal angefangen hat, über das Simple hinüberzusteigen, so wird
man im Simplen nie wieder die Befriedigung finden, die Hinz und
Kunz darin zu finden vermögen. Ja! Ja! Die Mutter Natur hält es
doch für gut, Leute, die was werden könnten, mit einer kleinen
Zwangserziehung zu beglücken – und wenn's auch weh tun sollte.
Was ist also die große Müdigkeit? Sie entsteht, wenn man
Spießerglück will – und doch zu Sternenglück erzogen werden soll.
Es gibt auch höhere Wesen, die sich zu Gunsten noch höherer
Lebensreizer auch das Sternenglück abgewöhnen müssen – u.s.w. –
immer höher – mit Grazie ad infinitum! Rede nicht. Onkelchen.
Denke darüber nach.«
Und ich tat's.
Und dann wollte der Kleine wieder was lesen.
Und ich fand gar nichts Rechtes; mir genügten meine Sachen
plötzlich nicht mehr, was mir sehr schmerzhaft war.
Doch schließlich gab ich zögernd wiederum drei Sachen raus.
Noahs Glück
»Die Leute denken immer,« sagte Noah, als er seine
Barke vollgepackt hatte, »ich hätte das Reisen so gern.
Das ist aber gar nicht wahr. Es gefällt mir hier überall
nicht – und daher reise ich – das ist die ganze
Geschichte.«
Mit diesen Worten stieg Noah in seine Barke.
Diesmal war's eine Luftbarke.
Und mit der Luftbarke fuhr er rasch in den freien
Äther hinaus – an Mond und Sonne vorbei – in die große
Sternenwelt.
Und bald war Noah jenseits von unserm
Milchstraßensystem.
Er war also schon recht weit gefahren, und seine Frau
wunderte sich schon.
Doch Noah fuhr noch weiter – er steuerte auf einen
großen Nebelfleck zu, der aus lauter Pilzsternen bestand
– aus sehr vielen bunten und mannigfaltig geformten
Pilzsternen.
Und Noah fuhr mit seiner Barke hinter den
Nebelfleck und begann dann plötzlich ein lustiges
Liedchen zu pfeifen.
Da kamen Noahs sämtliche Anverwandte aufs Deck
hinauf und lachten.
»Jetzt sind wir endlich so weit!« rief der alte Noah mit
seiner hellen Geisterstimme.
Und Noahs Frau fragte ihren Mann:
»Na, bist Du jetzt glücklich?«
»Jawohl,« rief der alte Noah, »jetzt bin ich
vollkommen glücklich. Hier können wir bleiben – die
Pilzsterne sind undurchsichtig – und von dem
Milchstraßensystem, in dem sich die alte Erde dreht,
werden wir nimmermehr was sehen können.«
»Das ist man gut!« riefen Alle.
Und Noah pries sein Glück.
Und Noahs Anverwandte lachten – mitsamt seiner
Frau.
Noah jedoch weinte vor Freude – so groß war sein
Glück.
Und die Pilzsterne blieben undurchsichtig für alle
Ewigkeit.
Und Noahs Luftbarke blieb fest verankert.
Die Bewohner der Luftbarke sahen woanders hin.
Und Noah pries sein Glück tagtäglich hundertmal und
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