Omni-Channel-Geschäftsmodell gefragt
Das grundsätzliche Geschäftsmodell der Messewirtschaft – Angebot und Nachfrage physisch zusammenzubringen – wird sich nicht ändern: Lediglich die Art und Weise ändert sich. Das „Einmal-im-Jahr-Angebot“ wird zu einem „Omni-Channel-Geschäftsmodell“ entwickelt: Wir haben die Anforderungen schon vor circa zwanzig Jahren formuliert: „Erfolgreich wird dasjenige Messeunternehmen sein, welches Matchmaking- und Kommunikationsdienstleistungen unabhängig von Zeit, Ort und Medium anbietet“. Gleichzeitig wird es darauf ankommen, dass Veranstalter besser in der Lage sind, Kundenbedürfnisse zu erkennen und zu adressieren. Das Prinzip Zufall ist ein wichtiges Element einer Messeveranstaltung, die Veranstaltung darf aber nicht „nur“ Zufall sein. Das bisher praktizierte Verfahren, dass der Veranstalter die Hallen öffnet und anschließend nicht mehr weiß, wie Aussteller und Besucher interagieren, gehört der Vergangenheit an. Eine qualitative Kombination aus Digitalangebot und physischer Veranstaltung, verbunden mit Datenmanagement und künstlicher Intelligenz, wird Veranstalter in die Lage versetzen, spezifische Kundenbedürfnisse zu ermitteln und darauf aufbauend entsprechende Angebote mit höchstem Kundennutzen zu entwickeln. Online und Onsite wachsen zusammen. Ein Messebesuch könnte in der Praxis so aussehen: Ein Besucher meldet sich zu einer Veranstaltung an und erhält auf elektronischem Weg Informationen zu bestimmten Themen: Fortbildung, Innovationen oder Aussteller/Produkte, die ihn aufgrund seiner identifizierten Präferenzen interessieren sowie einen entsprechenden Besuchsplan für seinen Messeaufenthalt. Vor und nach der Messeveranstaltung werden, ausgerichtet an spezifischen Kundenbedürfnissen, ganzjährig „online“ und „onsite“ Produkte und Dienstleistungen angeboten. Das physische Treffen wird damit durch Komplementärangebote ersetzt, die Ausstellern und Besuchern einen tatsächlichen Mehrwert bringen. Entscheidend wird sein, die spezifischen Kundenbedürfnisse sowie die entsprechenden Zahlungsbereitschaften zu ermitteln.
Dass sich das Messegeschäft in den letzten Jahrzehnten wenig geändert hat, ist nachvollziehbar. Das Wachstum in der Branche war hoch, die Margen ebenfalls und in vielen öffentlich-rechtlich geführten Gesellschaften standen die Gesellschafter bei Bedarf mit finanzieller Unterstützung zur Verfügung. Es bestand daher kein Anlass für gravierende Veränderungen. Unseres Erachtens nach deutete sich allerdings schon länger ein Ende dieses Geschäftsmodells an, die Krise hat den Handlungsdruck dramatisch verschärft. Heute bedarf es einer neuen Denkkultur mit Auswirkungen auf Organisationen und benötigte Fähigkeiten. Der Verkauf von Standflächen ist nach wie vor wichtig, es erfordert aber Mitarbeiter(innen) und Teams, die die Integration von physischen und digitalen Konzepten verstehen und vermarkten können. Darüber hinaus sind neue Qualifikationen gefragt, wie zum Beispiel im Bereich Datenanalyse und künstliche Intelligenz. Für die Messegesellschaften sind dies große Herausforderungen, da sehr unterschiedliche Kulturen aufeinanderstoßen und die Organisationen angepasst werden müssen. Insbesondere die angelsächsischen Gesellschaften haben hier in den letzten Monaten wichtige Schritte in die richtige Richtung gemacht.
Digitalisierung bietet große Chancen
Die Digitalisierung birgt nicht nur Risiken, sondern vor allem große Chancen. Veranstalter können 365 Tage im Jahr digital mit ihren Zielgruppen kommunizieren, die Kundenbindung wird intensiviert, die Reichweite um ein Vielfaches erhöht und die Gewinnung neuer Kunden vereinfacht. Auch lassen sich neue Umsatzquellen erschließen, wenn digitale Angebote einen Mehrwert bieten, der entsprechend „bepreist“ werden kann. Die bisher vielfach geübte Praxis, digitale Pakete für Aussteller verpflichtend anzubieten, ist nicht nachhaltig, sie wird häufig von den Ausstellern wie eine Steuer ohne Kundennutzen empfunden. Letztlich gibt es sehr viele Möglichkeiten, einen wirklich nutzbringenden Beitrag zum Geschäftserfolg der Kunden zu leisten und sich das angemessen vergüten zu lassen. In jedem Fall wird die „Customer Centricity“ deutlich an Bedeutung gewinnen: Veranstalter haben mehr denn je zu verstehen, welche Dienstleistungsangebote von ihren Kunden geschätzt werden und wie die Zahlungsbereitschaften sind. Wird dies gut gemacht, werden die physischen Veranstaltungen gestärkt aus der Digitalisierung hervorgehen.
Messegelände müssen sich anpassen
Veranstaltungsgrößen von 250.000 Quadratmetern erscheinen in der Zukunft immer weniger realistisch. Solche oder ähnliche Größenordnungen können allenfalls durch mehrere Parallelveranstaltungen erreicht werden, die sich thematisch gegenseitig ergänzen. Diese Entwicklung hat Auswirkungen auf die Messeinfrastruktur.
Geländegröße ist anders als in der Vergangenheit kein Vorteil mehr. Die Messegelände müssen sich an die neuen Entwicklungen anpassen. Zum einen geht es um das Thema Funktionalität. Großgelände müssen in der Lage sein, mehrere Veranstaltungen parallel zu organisieren, um auch nur annähernd die historische Auslastung zu erreichen. Verschiedene Eingangsoptionen mit direkten Zugängen zu Parkplätzen und ÖPNV sind dementsprechend neu zu gestalten/zu schaffen, ebenso wie dezentrale Konferenzflächen und Qualitätsflächen für Besucher. Zeit ist ein kostbares Gut und Besucher schätzen Messegelände der „kurzen Wege“. Shuttlebusse für Veranstaltungen mit 10.000 oder 20.000 Besuchern gehören der Vergangenheit an. In anderer Hinsicht wird es ebenfalls Anpassungen geben müssen. Bislang waren Messegelände darauf ausgerichtet, Besucher möglichst schnell an die Stände der Aussteller zu bringen. In der Praxis löst sich dieses klassische Schema auf, da Trennlinien verwischen: Besucher wollen nicht mehr nur Aussteller treffen, sondern auch andere Besucher. Nehmen wir eine Dienstleistungsmesse wie die Expo Real in München als Beispiel: Gespräche zwischen Besuchern untereinander machen hier sicherlich die Hälfte der Kontakte aus. Dieser Trend wird zunehmend auch auf anderen Messen spürbar werden, es wird die Herausforderung sein, solche Bedürfnisse durch Umgestaltung der „Hardware“ zu erfüllen, etwa durch das Schaffen geeigneter attraktiver Treffpunkte an oder in den Hallen.
JWC ist für zahlreiche Gesellschaften in Europa beratend tätig, unter anderem auch für Geländeeigentümer oder -betreiber. In rund 80 Prozent der Fälle sind wir uns mit den Auftraggebern einig, dass zum Erhalt der Zukunftsfähigkeit von Geländen eine Qualitätssteigerung mit einer Quantitätsreduktion einhergehen muss. Trotzdem stellen wir verwundert fest, dass in einigen Fällen weiter ausgebaut wird, so als sei nichts passiert. Dabei kann mehr Qualität zum Teil ähnliche Effekte haben, etwa verhältnismäßig mehr erzeugbare Nettofläche bedeuten. Hier sollte spätestens die Corona-Krise ein Umdenken bewirken, eine Abkehr von der Maxime, unbedingt die bestehende Bruttoausstellungsfläche halten zu wollen.
Die Kernflächen attraktiver machen
Um Wettbewerbsvorteile zu generieren, sind Investitionen in die Attraktivität der Gelände-Kernfläche(n) erforderlich. Dazu gehört unter anderem die technische Ausstattung, mit deren Hilfe Veranstaltungen und Messegeschehen zusätzlich live im Netz stattfinden können. Sollen zum Beispiel 20 bis 30 Vorträge/Diskussionen gleichzeitig rund um den Globus übertragen werden, muss die technische Ausstattung angepasst werden. Kostenloses WiFi, das aufgrund günstigerer Mobilfunkverträge von den Teilnehmern ohnehin seltener genutzt wird, ist heute schon Standard. Attraktiver werden müssen ebenso die Food+Beverage-Angebote. Das traditionelle, fixe Restaurant ist vielleicht wirtschaftlich attraktiv, aber nur mit Mehraufwand in der Lage, flexibel auf die betreffenden Zielgruppen zu reagieren. Dienstleistungen wie etwa Abhängungen, bleiben wichtig, werden allerdings zukünftig keine Hauptrolle mehr spielen. Die Dimension der Elektroversorgung oder die Bodenlast in der Halle werden ebenso an Bedeutung verlieren, da nicht mehr so viele und große Maschinen in den Hallen präsentiert werden. Logistik ist weiterhin wichtig, das Transportvolumen wird allerdings geringer, da es künftig mehr um den persönlichen Austausch als um Produktpräsentationen geht.
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