Sie holen die Reisende von der Poststation ab. Crescence Mirat scheint alles andere als ein ungehobelter, nach Kuhmist riechender Bauerntrampel; mit Genugtuung bemerkt er, dass sie körperlich gesehen etwas kleiner ist als er. Gegenüber größeren Frauen hat er immer einen gewissen Komplex, eine Angst, dass Liebe nicht möglich wäre, eine gewisse leidende Innigkeit und beobachtende Liebesangst . Sie ist ein schönes Mädchen, schreibt Ludwig Marcuse: ihre Formen sind plastisch; ihre Haut schimmert blendend weiß. Das lange kastanienbraune Haar fällt ihr den Rücken hinab bis auf die Hüften. Ein Grübchen macht die kleine, lebenslustige Person noch lustiger. Sie hat Phantasie und Temperament; sie plappert unaufhörlich heraus, was ihr gerade einfällt, über Vinot, über ihre Mutter, über ihren kleinen Hof und die Tiere.
Als er anderntags zu Morelle kommt, sitzt sie auf der Chaiselongue im Wohnzimmer neben der Tür, die unterm Rock hervorkommenden Beine aufs Polster hinauf gezogen und züchtig geschlossen, die Unterarme auf den Schenkeln und die Hände gefaltet, dabei das Gesicht erhoben und, ein Bild der Bescheidenheit und Unschuld, auf ihrer beider hauptstädtisch-renommistischen Bericht schüchterne Fragen und Zustimmung äußernd: Ah oui , oui – non , non .
Den Monsieur Henrienne betrachtet sie als eine Art Onkel, einen deutschen Landsmann ihrer Tante, als wäre diese, nachdem ihr Mann das Zeitliche gesegnet, zu ihren nationalen Wurzeln zurückgekehrt. Sie macht große Augen, als sie hört, dass er ein Dichter und Schriftsteller ist, der schon einige Bücher und letztes Jahr in L'Europe littéraire einen Essay mit dem Titel État actuel de la littérature en Allemagne herausgebracht hat. Zur Zeit bereitet er die französische Ausgabe seiner Reisebilder vor. Sie selber hat, da sie von ihrer Mutter auf dem Hof, von dem sie leben, schon früh eingespannt wurde, weder lesen noch schreiben gelernt, so dass sie nicht einmal lesen kann, was er schreibt.
Henri fühlt sich nicht eigentlich als ihr Onkel. Ja, ehrlich gesagt, er fühlt sich als alles andere als ihr Onkel; er fühlt in ihrer Gegenwart eine Art gespannte Unruhe, eine aufgestachelte Unruhe seines Blutes. Wann war er zum letzten Mal in so intimer Nähe eines so attraktiven Geschöpfes? Er spürt die ersten seismographischen Verschiebungen eines Bebens, das ihn bis in der Seele tiefsten Sitz erschüttern wird. Seine Haltung ihr gegenüber ist eine Mischung aus Bangigkeit und Sehnsucht: Sehnsucht nach ihrer Schönheit und Jugend; Bangigkeit, dass sie seine Liebe zurückweisen könnte. Schon nach wenigen Tagen des Zusammenseins macht er der Treulosigkeit, déloyauté , zum Trotz, die darin gegenüber Morelle liegt, heimlich Verse für sie. Er camoufliert sie als Katharina I, II, biegt aber, sich kritisch selbst zensierend, den Schluss ins Komödiantische um:
Ein schöner Stern geht auf in meiner Nacht,
Ein Stern, der süßen Trost herniederlacht
Und neues Leben mir verspricht –
Oh, lüge nicht!
Gleichwie das Meer dem Mond entgegenschwillt,
So flutet meine Seele, froh und wild,
Empor zu deinem holden Licht –
Oh, lüge nicht!
„Wollen Sie ihr nicht vorgestellt sein?“
Flüsterte mir die Herzogin. –
„Beileibe nicht, ich müsst ein Held sein,
Ihr Anblick schon wirrt mir den Sinn.“
Das schöne Weib macht mich erbeben!
Es ahnet mir, in ihrer Näh
Beginnt für mich ein neues Leben,
Mit neuer Lust, mit neuem Weh.
Es hält wie Angst mich von ihr ferne,
Es treibt mich Sehnsucht hin zu ihr!
Wie meines Schicksals wilde Sterne
Erscheinen diese Augen mir.
Die Stirn ist klar. Doch es gewittert
Dahinter schon der künft'ge Blitz,
Der künft'ge Sturm, der mich erschüttert
Bis in der Seele tiefsten Sitz.
Der Mund ist fromm. Doch mit Entsetzen
Unter den Rosen seh ich schon
Die Schlangen, die mich einst verletzen
Mit falschem Kuss, mit süßem Hohn.
Die Sehnsucht treibt. – Ich muss mich näh'ren
Dem holden, unheilschwangern Ort –
Schon kann ich ihre Stimme hören –
Klingende Flamme ist ihr Wort.
Sie fragt: „Monsieur, wie ist der Name
Der Sängerin, die eben sang?“
Stotternd antworte ich der Dame:
„Hab nichts gehört von dem Gesang.“
Von solchem Klang! könnte es um des abgewandelten Reimes willen heißen. Da er mit Morelle nur unverbindlich verbunden und ihr nicht gänzlich verpflichtet ist, ist er auch nur halb und halb Crescences Onkel. Wie der minoische Minotaurus, dem im subkutanen Labyrinth seines Blutes ein jungfräuliches Opfer zugeführt wird, schnüffelt und schnuppert er mit geblähten Nüstern um sie herum. Kretische Crescence! Vor allem das lange kastanienbraune Haar fasziniert ihn, das ihr, wenn sie es lose trägt, herab bis über die Hüften fällt. Da erscheint sie ihm wie die Lorelei seines berühmten Gedichts, die auf des funkelnden Felsens Spitze ihr goldenes Haar kämmt. Auch wenn sie nicht singt, er spürt die wundersame gewaltige Melodie seiner Sehnsucht.
Auch ist sie beileibe nicht so fern und unerreichbar wie die Lorelei über dem Rhein, und er nicht wie der Schiffer im kleinen Schiffe, er befindet sich auf ein und derselben Höhe mit ihr und braucht nur die Hand auszustrecken, um sie zu berühren. Das wagt er aber nicht, dafür ist es noch zu früh. Sie würde sich ihm entziehen wie einem Tantalus. Besucht er jetzt Morelle, dann nicht mehr, wie er sich eingesteht, nur um ihretwillen, ja, eigentlich schon weniger um ihretwillen als mehr um ihrer Besucherin willen. Schon auf dem Weg zu ihr spürt er die knisternde Spannung, Crescence zu sehen. Wo anders sollte sie auch hin, kennt sie doch niemanden sonst in der Stadt, noch nicht. Auch nächtigt er jetzt, seitdem Crescence bei ihr wohnt, nicht mehr bei Morelle, und vermeidet es sogar, dass sie die Nacht bei ihm an der Porte St. Denis verbringt.
Die meiste Zeit geht Crescence ihr im Laden zur Hand. Sie plappert sich schnell in die Herzen der Leute. Sie schwatzt den Kunden gern etwas vor, steht in der Ladentür, lächelt die Vorübergehenden an und wird von ihnen angelächelt; das Schuhgeschäft belebt sich merklich durch sie. Sieht er sie so vor dem Laden stehen und den Vorübergehenden aufmunternde Blicke zuwerfen, spürt er bereits stechende Eifersucht. Wie leicht könnte ein junger Passant, Fant ihre Blicke aufschnappen und sie auf ganz ungeschäftliche Weise erwidern? Wie lang bleibt ein mannbares Mädchen wie sie in Paris allein? Par dieu! er muss ein Auge darauf haben, dass sie ihm nicht auf diese Weise abhanden kommt, und sucht sie durch alle möglichen Aufmerksamkeiten an sich zu binden. Zum Glück glaubt er festzustellen, dass sie selber nicht von der Art Sinnlichkeit scheint, die ebenso schnell jener erläge, die sie erweckt. Vorläufig gehört sie ganz ihm und Morelle.
Sie hat eines von Morelles leerstehenden Zimmern in Beschlag und fühlt sich darin ganz zu Hause. Er besucht sie zumeist abends, wenn der Laden schon zu ist, um sie noch in der Stadt auszuführen. A la bonne heure besteht da in Paris, der Hauptstadt der Welt, keine Not. Er führt seine beiden Konkubinen, Tante und Nichte, in das Café, das Leclerque geheißen und an der Ecke des Gässchens St. Mery gelegen ist, und wo es gute Leckereien gibt. Besonders für Speiseeis zeigt se ein ausgesprochenes Faible, – was insofern günstig ist, als es ihm Gelegenheit gibt, sich großzügig zu zeigen. Es gibt Vanille, Pistache, Melée. In der Karte deutet sie – nicht aus einem unbescheidenen Wunsch, sondern weil es so großspurig aussieht – lustig auf einen prächtigen bunten Becher, dessen Namen sie nicht entziffern kann. Nicht dass sie ihn möchte, dazu ist sie zu genügsam, er fällt ihr nur seiner Auffälligkeit wegen auf.
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