1 ...6 7 8 10 11 12 ...18 Coppa Paris! kommt Henri ihr zungenfertig zu Hilfe.
Ah, Coppa Paris! wiederholt sie schüchtern.
Ihr Wort ist ihm Befehl. Une Coppa Paris! ordert er, sobald der Garçon wieder am Tisch ist, und gibt ihr so zu verstehen, dass er nicht allein ihren Wunsch als Befehl, sondern auch jedes ihrer Worte schon als einen Wunsch versteht.
Solche Aufmerksamkeiten erweist er ihr offen vor Morelle, wie um dem Verdacht vorzubeugen, als hätte er irgendwelche Heimlichkeiten nötig. Er führt sie in die diversen Konditoreien. Er führt sie ins Restaurant Pestel und au Périgord, eines der elegantesten Café-Restaurants von Paris. Die Rechnung teilt er sich, meist zu seinem Nachteil, mit Morelle, so dass Crescence, die nicht viel bei sich hat, keinen Sou verliert. Manchmal erfindet er einen besonders persönlichen Vorwand zum Feiern, damit er die Rechnung allein übernehmen kann. Äußert sie schüchternen Protest: ob der Onkel nicht zuviel Geld für sie ausgebe?, so verweist er stolz auf den Scheck, der ihm gerade seitens seines Verlegers zukomme. Hat Crescence schon keine Ahnung vom Inhalt seiner Poesien, und kann nichts davon lesen, soll sie doch wenigstens einen Eindruck davon kriegen, was sie materiell abwirft.
Beim Tanz auf dem Sommerfest im Biergarten eines griechischen Lokals im Bois du Boulogne kommt er mit ihrem goldenen Haar in Kontakt. Hartnäckig hält sie bei der Valse Musette in seinen Armen die Augen abgewandt, als fürchtete sie, seinem Blick zu begegnen. Bei jeder Drehung wirft sie ruckartig wie mechanisch den Kopf auf die andere Seite, und er fragt sich, will sie so als zünftige Tänzerin erscheinen oder nur seinem suchenden Blick entfliehen? Er ist wie der Fuchs, der das Küchlein belagert, und Morelle schaut ihm nichtsahnend zu. Nicht aber nur hält er ihre kühle Hand auf seiner Schulter fest unter seiner heißen und feuchten, sondern taucht auch sein sonnengebräuntes Gesicht in den Katarakt ihres Haars, das ihr vom Scheitel auf die weißen Arme herab fällt. Dabei hält er sie, während seine Wange durch den durchlässigen Schleier der Haare die ihrige sucht, so eng bei sich, dass es, wie er selber fühlt, eine Schande ist.
Einmal war es seine Tante Sylvette, Simons Braut, die er so inzestuös an sich schmiegte; jetzt ist er selber, der Oncle titulaire, dabei, die Nichte zu verführen. Henri, oncle incestueux! Er weiß, wenn er sich dabei gehen lässt, kompromittiert er auch sie. Er verhält sich aber nur so, wie es seiner wahren Empfindung entspricht. Soll er sich seiner Liebe schämen? So kann er, was er nicht sagen darf, zumindest zeigen. Alle können es sehen, und wenn sie es nicht wahrhaben wollen, ist es ihre eigene Schuld. Morelle aber verschließt überhaupt die Augen, denn was sie nicht einmal denken kann, kann sie auch nicht sehen. Als diese Wahrheit fast schon mit Händen zu greifen ist, nimmt Crescence, wie wenn sie es ahnte, ihn beim Arm und geleitet ihn, wie um ihn auf den Pfad der Tugend zurückzuführen, wieder an den gemeinsamen Tisch:
La tante ... Morelle ..., sagt sie erklärend, indem sie seinen Kosenamen für Chloé übernimmt.
Er folgt ihr gehorsam wie ein schuldbewusster Schuljunge, der bei einem Streich ertappt wurde; oder wie ein süchtiger Trinker auf Freigang zurück zum Entzug; oder wie ein straffällig Gewordener seinem Betreuer zurück in die Resozialisierung. Doch hat er bei all seinen riskierten Annäherungen nie das Gefühl, dass sie sich darüber ärgert oder es ihm verargt. Ihre Sanftheit und Güte ist wie ein Schirm vor seiner Ruchlosigkeit. Solch ein nachsichtiger Engel sollte ihn einst durch die Pforten des Himmels führen. Doch kommt er nicht ungeschoren davon. Es bleibt nämlich bei diesem ersten und einzigen Mal im Bois du Boulogne, und auch im Jardin du Luxembourg, dass er mit ihr tanzt; er weiß nicht, ist es Zufall oder kalkulierte Absicht, dass es sich nicht wiederholt. Aber zu spät. Sein Entschluss ist gefasst. Les jeux sont faits .
Immer wieder führt sie ihn wieder zurück zu zu Morelle. Bei einer Dampferfahrt auf der Seine, zu der er einlädt, bemerkt er ein kleines weißes Bläschen an ihrem Kinn. Seine Hand zuckt nach dem Makeup in seinem Jackett, doch wagt er nicht, sie anzufassen und ihre Natürlichkeit zu touchieren. Einmal sitzt er auf dem Dampfer allein mit ihr, trunken von ihrer Nähe, am Tisch. Angesichts ihres Kinns zuckt seine Hand wieder nach dem Makeup. Fast scheint sie etwas Schuldgefühle zu haben, dass sie mit ihm allein ist. Wieder sagt sie:
Morelle …, mit dem Blick nach Chloé.
Aber zu spät. Die Würfel sind gefallen. Der Skandal ist nicht mehr aufzuhalten.
Stets ist sie so umsichtig, empfindsam und delikat darauf bedacht, dass sie nicht zwischen Morelle und ihn gerät. Mit ehrgeiziger Achtsamkeit passt sie auf, nicht einmal räumlich zwischen sie zu geraten, dergestalt, dass wenn sie zu dritt durch die Stadt flanieren und Morelle zu seiner Rechten geht, sie sich möglichst wieder rechts von ihr hält; dies direkt entgegen seinem eigenen Bestreben, sie zwischen sich und Morelle – oder gar, wenn Morelle links von ihm geht, rechts von sich – zu kriegen. So auffällig ist, bewusst oder nicht, ihr zuwiderlaufendes Bestreben, dass es ihn fast schon amüsiert und er sich – ruchloser Henri! – einen grausamen Spaß daraus macht, Zufall zu spielen, ihre Anstrengungen bewusst zu vereiteln und sie auf alle Art zu boykottieren. Natürlich geschieht das so scheinbar unbefangen und unauffällig, dass sie es nicht merkt und auf den Gedanken kommt, diese Anstalten könnten seinerseits schnöde Absicht sein.
Würde sie ihm das unsensible Verhalten um seiner Liebe willen verzeihen? Schon jetzt leistet er ihr heimliche Abbitte für die Peinlichkeiten – delitti d'amore –, die er ihr dadurch verursacht – die Stolpersteine, die ihr seine Zärtlichkeit in den Weg wirft. Einmal kommt sie auf einer Bank im Bois de Boulogne, wo die Leute am Seeufer promenieren, zwischen Morelle und ihn zu sitzen, weil er angesichts der beiden Sitzenden bewusst auf der falschen Seite – nicht rechts neben Morelle, sondern links neben ihr – Platz nimmt. Sogleich springt sie wie von der Tarantel gestochen auf, um ihm den Platz neben Morelle zu räumen und sich rechts von ihr niederzulassen. Morelle selbst vereitelt ihre Absicht, indem sie, seinem Anschlag treuherzig Vorschub leistend, um ihm links außen Platz zu machen, ihrerseits ans linke Ende der Bank rutscht.
Ist er sich bewusst, dass ihr solch scheinbare Unachtsamkeitkeiten in der Seele weh tun müssen? Natürlich ist er sich dessen bewusst, aber abgesehen davon, dass er sie durch scheinbare Gedankenlosigkeit überspielt, gewöhnt er sie dadurch an die noch ungleich größere Grausamkeit, die ihr bevorsteht. Er spürt den wilden, ungezügelten Drang, seinen Arm um Crescence zu legen –, und hält sich für die Unmöglichkeit dadurch schadlos, wie nahe ihre Füße jetzt nebeneinander sind.
Immer entspringt sie, wenn sie zwischen Morelle und ihn gerät, ihm gleichsam wie in Panik – ein Zicklein, das sich versehentlich neben den Wolf verirrte. Ay, ihre Schönheit! Ihre unbefangene, integre Schönheit! Das aber gerade ist es, was die Bestien lieben: Je klarer ihre Reinheit und Integrität, desto anziehender wird sie für ihn – so dass ihre instinktiven Fluchtversuche gerade den gegenteiligen Effekt haben. Je angestrengter sie seiner Verliebtheit zu entrinnen sucht, desto stärker ruft sie sie hervor … –
Als ihre Ferien vorbei sind und sie sie zum Postwagen nach Vinot bringen, blutet sein Herz wie die Augen der Madonna. Ihm bleibt nur die Aussicht, dass sie nächsten Sommer wieder kommt. Noch am selben Abend macht er, allein in seiner Klause, ein Gedicht. Mesdames erfahren nichts davon:
Wie entwickeln sich doch schnelle,
Aus der flüchtigsten Empfindung,
Leidenschaften ohne Grenzen
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