Die Schlange streckte ihren Kopf unter dem Stein hervor. Sie war noch halb vom Präriegras verdeckt, doch seine Augen hatten sie bereits erspäht. Seine Muskeln entspannten sich, er hielt den Atem an. Die Schlange rührte sich nicht. Sie lag wie erstarrt. Er ahnte plötzlich, dass es wieder fehlschlagen könnte wie damals - vor Marys Tod. Ihm wurde heiß, er hörte sein Herz pochen. Das Reptil bewegte sich. Ruhig hob es den Kopf, reckte ihn züngelnd in die Höhe, glitt bedächtig aus seinem Unterschlupf und näherte sich dem Querschnittsgelähmten. Attila spannte alle Muskeln seines schmächtigen Oberkörpers, atemlos, wie hypnotisiert folgte er ihren gleitenden Bewegungen, bis seine Hand plötzlich vorschnellte und das Tier mit dem gegabelten Ende des Fangstabes in den Morast presste. Die Schlange wand sich wild zuckend um den Stab, doch Attila gab nicht nach. Er fühlte die Kraft seiner Arme und Hände. Schweißperlen mischten sich an seinen Schläfen mit dem niederströmenden Regen. Seinen Körper auf den Fangstab gestützt, zog er sich langsam an die Schlange heran, die nur noch verbissener kämpfte, als sich das ganze Gewicht des Gelähmten auf sie legte. Attila atmete tief aus und ein. Sein Gesicht war verzerrt. Speichel rann ihm aus den Mundwinkeln.
Die Schlange lag unter ihm, ihr Körper zuckte und rieb sich an dem fremden, metallischen Objekt. Attila beugte sich erregt über die Lehne des Rollstuhls. Das Reptil entspannte augenblicklich seinen gestreiften Körper, als er ihn mit der Hand betastete, fuhr jedoch jäh in die Höhe, als der Jäger den Fangstab fallen ließ und mit der freien Hand nach seiner glatten Kehle griff. Attila stürzte ruckartig mit dem Rollstuhl in den Morast. Wie ein langer, erigierter Muskel wand sich die Schlange unter ihm. Mit seiner kraftvollen Rechten hielt er ihren Hals umspannt, bis das Tier wie in einer Schraubzwinge feststeckte. Sein linker Ellenbogen stützte ihn, seine Hand hielt das tobende Reptil in sicherem Abstand von seinem Gesicht.
- Niemand weiß, dass ich hier bin! durchfuhr es ihn plötzlich.
Er ließ sich seitlich auf den Rücken sinken, sein Kopf schien ihm schwer wie Blei. Blei in den Knochen. Nicht aufgeben, Attila O´Neale... Mary schrieb, du wärst verrückt, aber SIE schnitt sich die Pulsadern auf, nicht ich... Mary, hier... Dein verrückter Bruder! Mary! Er lachte auf und schrie, während er die Schlange noch fester packte. Wütend schüttelte er ihren sich unablässig windenden Leib, griff sie mit seiner Linken am Schwanz und zog das wild zuckende Knäuel vor seinem verzerrten Antlitz in die Länge. Die Schlange wehrte sich mit aller Kraft, doch Attila war stärker als das Reptil. Er hielt es vor sich in die Höhe wie eine Trophäe und brach ihren Willen. Sie entspannte ihren Körper, ihre halbmondförmigen Augen spiegelten Angst vor dem Tod.
Attila sah sich nach Rettung um. Sein Blick fiel auf eine umgestürzte Eiche, die nahe dem Waldweg lag und mit klobigem Wurzelwerk in den wolkenverhangenen Nachthimmel ragte. Attila robbte mit angewinkelten Armen auf den Baum zu. Mit seiner Linken zog er den umgekippten Rollstuhl, die Rechte umfasste die Schlange mit eisernem Griff. Der Baum hatte eine griffige Borke, in die sich seine Finger krallten, als er sich wie ein waidwundes Tier an ihm hochzog. Er presste seine Stirn an das borkige Holz, spürte Blut an seiner Schläfe und zog sich mit Mühe auf den Baumstamm, zerrte mit der Linken den Rollstuhl neben sich und ließ sich aufatmend in den Sitz gleiten. Die Schlange war halb erstickt. Seine Hand war im Würgegriff erstarrt, nur unter Schmerzen gelang es ihm seine verkrampften Finger vom Natternleib zu lösen. Er bewegte seine Finger einzeln und ohne Hast. Die Schlange lag zusammengerollt auf seinem Schoß. Seine Linke hielt ihre Kehle umfasst. Es gab kein Entkommen für sie, doch sie verstand nicht, warum der Jäger sie nicht tötete, das Schlangenhirn registrierte seine Schwäche.
Mary war tot. Das hatte Jane ihm aus Berlin geschrieben. Attila fühlte eine große Leere. Er hatte Mary geliebt, ihre Freunde hatten sie geliebt, die Eltern. Jetzt war sie nur ein Haufen Asche in einer Urne in einem Flugzeug, hoch über den Wolken. Air Mail. Wie ihre Briefe. Attila fühlte die Tränen in seinen Augen. Warum hatte sie es nur getan? Er streichelte die Schlange. Für einen Augenblick vergaß er sich und seine trostlose Umgebung. Dann riss ihn ein stechender Schmerz aus dem Halbschlaf, in den er müde und erschöpft gesunken war. Er fuhr hoch, griff nach der Schlange, doch blitzschnell hatte sie zugestoßen. Sein Arm brannte wie tausend Feuer. Attila spürte das Gift, das sich geschwind zur Schulter hinauf fraß und seinen Arm unheilvoll anschwellen ließ. Schweiß perlte in Bächen von seiner Stirn. Das Fieber begann seinen Körper zu schütteln. Der Schmerz klammerte sich unerträglich um seine Brust, sein Kopf sank nach vorn, seine Hände griffen verzweifelt nach dem kühlen Metall. Als die Dunkelheit ihn schließlich umhüllte, verflüchtigte sich scheinbar der todbringende Schmerz.
Der Mond schien gespenstisch durch die pechschwarzen Wolken hinter der Burg. Pablo wankte müde und betrunken durch die engen Gassen der Altstadt. Grelle Blitze zuckten lautlos über den verhangenen Nachthimmel, Donner grollte in der Ferne. Johns Whisky rumorte in seinen Eingeweiden. Die Stadt schien wie leergefegt, keine Seele weit und breit. Er fühlte sich speiübel, sein Magen hing schwer wie eine Bleikugel im Leib, die Häuser tanzten schemenhaft vor seinen Augen. Der warme Wind produzierte kleine Schweißperlen auf seiner Haut, die sich in Rinnsalen unter dem Hemd verflüchtigten.
Am Bahnhof standen Gastarbeiter.
- Heh, Leute, murmelte Pablo. Eine leere Bierdose rollte von irgendwo vor seine Füße. Er holte aus und erschrak als sie scheppernd gegen einen Fahrradständer prallte. Einer aus der Gruppe drehte sich um und beförderte die Dose mit einem Fußtritt zurück zu Pablo.
- Idiot, schimpfte dieser mit unterdrückter Stimme.
Das heranziehende Unwetter schnürte ihm die Kehle zu, Schweiß rann in Bächen an seinem Rücken hinab. Er stolperte weiter durch die Dunkelheit, schürfte mit seinen Schultern gegen die gekalkte Steinmauer im Tunnel unter den Bahngleisen. Am Wohnheim angekommen, schaute er einer Eingebung folgend zum pechschwarzen Nachthimmel empor, griff verwirrt nach dem Griff der eisernen Pforte, verfehlte ihn und stürzte kopfüber in das den Pfad säumende Rosenbeet.
- Pablo! hörte er Céline rufen. Sein Gesicht schmerzte, er fühlte Blut auf den Wangen. Seine Hände steckten in der schwarzen Erde, die Handflächen mit Blut und feuchter Erde verschmiert, seine Hosenbeine waren an den Knien verdreckt, kläglich über die Waden gerutscht. Er richtete sich mühsam auf, Céline kniete neben ihm, hielt seinen Kopf zwischen ihren Händen. Er starrte sie wortlos an.
Céline fühlte sich am nächsten Morgen eingeengt hinter der undurchdringlichen Regenwand, die vor ihren Augen gegen die Windschutzscheibe prasselte und in dichten Strömen seitlich abfloss. Pablo saß vornübergebeugt, seine Augen starr auf den Verkehr gerichtet. Er sprach nicht mit ihr bis sie die Landstraße erreichten. Vierzig Kilometer bis zur Autobahn, dann drei Stunden nach Norden, Abfahrt Herfuhrtshausen. Er lehnte sich im Sitz zurück, als die Straße frei wurde und sah seine Mitfahrerin an. Sie kauerte stumm vor den wenig effektiv in Halbkreisen über das Glas der Windschutzscheibe wirbelnden, bisweilen kläglich kratzenden Scheibenwischern, die bunte Schlieren aus zerplatzten Insektenkörpern und Öl vor ihrem Gesicht erzeugten. Céline schaute starr geradeaus.
- Übrigens, sagte Pablo. Das Mädchen, von dem ich dir erzählte, die Mary, die sich neulich die Pulsadern aufschnitt und im Krankenhaus starb...
Er sah in den Rückspiegel, gab Gas und zwängte sich an einem Lastwagen vorbei, der plötzlich vor ihnen auftauchte. Céline betrachtete gespannt seine Hände am Steuer, als der Lastwagen spritzend und polternd hinter ihrem Rücklicht verschwand. Pablo ordnete sich wieder ein.
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