Das war doch jetzt ganz einfach, dachte sie, als sie vor dem Waschbecken stand und eine Tablette geschluckt hatte. Alle machen das. Das ist keine Niederlage. Sie hob den Blick und betrachtete sich im Spiegel. Das hätte sie lieber nicht tun sollen, denn es erzeugte in ihr das dringende Bedürfnis, gleich noch einmal eine Tablette zu nehmen. Sie sah nach oben zur Beleuchtung. Diese Neonröhren. Die waren schuld. Von allein konnte niemand so beschissen aussehen wie sie gerade jetzt. Die Krone der Schöpfung – ha!
Plötzlich wurde die Tür zum Gang schwungvoll geöffnet. Bitte lass es nicht Sondra oder Fiona sein, betete Sue. Ihr Stoßgebet hatte Erfolg, es war eine ihr unbekannte Frau in den Sechzigern, die aussah, als käme sie gerade vom Segeln. Blauweiß gestreiftes Bretonenshirt, weiße Hose, marineblauer Blazer, luftgetrocknete, grauschwarz melierte, knapp schulterlange Haare. Und ein unverschämt frischer, fast faltenfreier Teint, der einwandfrei verriet, dass die Dame Segeln nicht zu ihren Hobbys zählte.
Nachdem sie Sue kurz zugenickt hatte, ließ die Frau kaltes Wasser über ihre Handgelenke laufen. „Du liebe Güte, bin ich aufgeregt!“ Sie drehte den Wasserhahn zu und sah zu Sue. „Ich bin heute das erste Mal im Fernsehen! Ich, Polly Myers!“
Sue lächelte.„Bei welcher Sendung treten Sie denn auf?“
„ No Limits “, antwortete Polly. Sie klopfte sich auf die Brust. „Mein Herz klopft wie wild.“
Sue lächelte. „Ein bisschen Lampenfieber hat jeder, glauben Sie mir. Es wird bestimmt alles gut gehen.“
Polly blickte skeptisch. „Arbeiten Sie hier, Mrs?““
„Urquhart“, ergänzte Sue. „Nein, aber ich begleite meinen Mann, der ab und zu hier ist.“
Polly hatte die Augen aufgerissen. „Urquhart? Dann ist Ihr Mann der Urquhart?“
Sue nickte.
Polly zog anerkennend ihre Augenbrauen hoch. „Dann sind Sie ja in besten Händen.“
Sue schwieg.
„Ach, wäre ich nur wie meine Patienten.“ Polly seufzte.
„Wie sind die denn?“ Sue kämmte sich die Haare. Manuel war auch schon mal besser gewesen. Die Föhnfrisur war keine mehr und sah nur noch desaströs aus.
„Dement. Die nehmen alles, wie es kommt und vergessen es sofort wieder. Das ist manchmal gar nicht so schlecht.“
Dement? Was zum Teufel hatte eine Demenzärztin in einer Sexsendung zu suchen? Es ging zwar um Senioren, aber demente Senioren und S.., das wollte sie sich lieber nicht vorstellen.
„Und Sie sind tatsächlich bei No Limits ? Da geht es heute um Sex“, fragte Sue nach.
„Es geht doch immer um Sex“, antwortete Polly lakonisch.
Sie klang wie eine Inkarnation von Terence, der stets das Gleiche behauptete. Musste er ja, er lebte schließlich davon, und das nicht schlecht.
Sue war verwirrt, was vielleicht auch daran lag, dass sich in ihrem Kopf alles drehte.
„Darf ich fragen, in welcher Funktion Sie an dieser Sendung teilnehmen?“
„Ich leite ein Seniorenheim, und wir haben Schlagzeilen gemacht, wenn ich das so sagen darf“, meinte sie und betrachtete sich stirnrunzelnd im Spiegel. „Also der Lippenstift, den mir diese Maskenbildnerin da aufgetragen hat – das bin nicht ich.“ Sie nahm sich ein Papierhandtuch und wischte das dunkle Bordeaux resolut weg. „Da nehme ich doch lieber meinen eigenen“, murmelte sie und trug einen dezenteren Rosenholzton auf.
„Schlagzeilen?“ Sue konnte sich im Zusammenhang mit Altenheimen an keine Sensationen erinnern. Keine Morde aus Barmherzigkeit, keine Fesselungen, keine Hungertoten.
„Wir legen Wert darauf, dass das Sexualleben unserer Bewohner nicht zu kurz kommt.“
Sue verspürte einen leichten Brechreiz. Okay, es war unfair, jeder wurde alt. Aber geriatrische Leiber, in Ekstase miteinander verbunden, das war, ja, was war es? Vorsichtig ausgedrückt gewöhnungsbedürftig.
„Es ist ein Tabu“, sagte Polly und traf damit für Sue den Nagel auf den Kopf. „Die Alten werden ausgegrenzt, und dabei haben auch sie sexuelle Bedürfnisse. Sie würden sich wundern.“ Sie musterte Sue im Spiegel. „Schockiere ich Sie, Schätzchen?“
Sue hüstelte. Gott war das peinlich.
Polly lächelte. „Als ob man seine Libido ab dem Sechzigsten abgibt.“ Sie sah auf die Uhr. „Ups, jetzt haben wir uns richtig verplaudert. Und ich muss auch noch mal…“
„Aber natürlich“, meinte Sue. „Nicht dass sie noch zu spät zur Sendung kommen.“
Als sich die Tür zur Kabine schloss, rief Sue: „Ich drücke Ihnen die Daumen!“
„Danke“, tönte es ein wenig atemlos zurück.
Auf einmal freute Sue sich auf die Sendung. Sie versprach, ziemlich spannend zu werden.
Als Sue in die Maske zurückkam, war Sondra Anderson, die Moderatorin von No Limits , bereits da. Irgendwie gelang es dieser Frau immer, ein Körperteil an Terence anzudocken. Vielleicht war sie gar nicht nymphomanisch, wie Sue immer gedacht hatte, sondern litt an Frotteurismus? Krank war diese Frau auf jeden Fall. Hätte Sue die Berichte der Klatschmagazine, die über die Affären dieses blond gefärbten, abgesaugten und zugegebenermaßen von einem begnadeten Schönheitschirurgen gestraffte Faktotums des englischen Fernsehens gesammelt – Sondra war seit mehr als einem Vierteljahrhundert aktiv –, könnte sie leicht ihren Vorgarten damit pflastern.
Gerade war es Sondras Fuß, der wie zufällig seinen streifte, als sie sich zu Fiona beugte, um einen Blick auf die Gästeliste zu werfen. Terence merkte jedoch nichts, da er gerade dabei war, Chris, dem Produktionsassistenten des Verlags, der im nächsten Monat sein neues Buch „Unlust als zweite Chance“ herausbringen würde, einige Änderungsvorschläge in letzter Sekunde zu unterbreiten.
„Mir sind gestern noch einige Gedanken untergekommen, die ich gerne noch in einem Extrakapitel einfügen möchte.“
Sue konnte förmlich spüren, wie sich Terences Gesprächspartner verkrampfte. Du liebe Güte, die Druckfahnen waren fertig! Die ganze Woche hatte sie Korrektur gelesen, weil das Manuskript morgen in Druck gehen würde, und jetzt kam ihr Gatte mit brandneuen Ideen. Zum Glück verkauften sich seine Bücher extrem gut – nur deshalb war der Verlag bereit, den immensen Verschleiß an Betreuungspersonal zu akzeptieren. Chris Lubin schien ihm jedoch ein ebenbürtiger Gegner zu sein, und Sue wunderte sich, dass Terence schließlich mit den Worten „Dann habe ich gleich den Aufhänger für mein nächstes Buch“, nachgab.
Kaum hatte Terence das Gespräch beendet, setzte Sondra ihre zugegebenermaßen sehr anziehende Stimme ein (gerade so tief, dass sie nicht nach Stripperclub roch).
„Terence Darling“, gurrte sie. „Wie immer auf den letzten Drücker.“
„Ich bin begehrt, meine Liebe“, gab Terence zurück, „was soll ich machen?“
„Still sitzen und mich meine Arbeit machen lassen“, meinte Paula und drückte ihn wieder in den Sessel zurück. „Sie sind heute sehr unruhig, Terence“, tadelte sie ihn.
Er warf Sue einen hilfesuchenden Blick zu.
„Er hat heute sein Ritalin noch nicht genommen“, erwiderte Sue.
„Ritalin?“ Paula hörte auf, an Terence herumzunesteln.
„Kleiner Insiderscherz“, lächelte Terence. „Vergiss es. Ich habe mich im Fitness-Studio etwas verausgabt.“
So konnte man es auch nennen.
„Noch ein paar Worte zur Sendung“, unterbrach Sondra das Gespräch. Sie konnte es nie leiden, wenn sich nicht alles um sie drehte.
„Gibt es was Neues?“, fragte Terence, nur mäßig interessiert.
„Du musst heute ein bisschen vorsichtiger sein.“
„Was soll das heißen? Sondra, bei uns geht es um Sex. Oder meinst du Safer Sex, dann spreche ich kurz über Kondome.“
Fiona kicherte. „Das möchte ich sehen, wie dieses Krampfaderngeschwader sich Kondome anlegt.“
Sondra warf ihr einen vernichtenden Blick zu. „Ich lieber nicht, aber die Senioren sind unsere Hauptzuschauergruppe. Und heute haben wir das Studio voll von Insassen eines Wohnstifts. Das heißt nicht weniger, als dass wir gewisse Regeln des Anstands wahren müssen.“
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