Fionas Handy meldete sich mit einem wummernden Bass. Mit gespieltem Genervtsein nahm sie das Gespräch an. Es dauerte nur wenige Sekunden und endete mit einem „Ja.“ Fiona sah in die Runde. „Sondra wird gleich hier sein.“
„Na, das nenne ich mal eine Neuigkeit“, sagte Terence mit ironischem Tonfall.
Auch Sue musste grinsen. Sondra würde sich keine Gelegenheit entgehen lassen, um Körperkontakt zu Terence herzustellen. Das ging besonders leicht, wenn er auf dem Schminkstuhl saß und nicht fliehen konnte.
Sue lehnte sich an die kühle Wand. Sie hatte diese immer gleichen Spielchen satt. Jeder nahm sich furchtbar wichtig und tat, als hinge von seinem Job das Überleben der Menschheit ab. Fiona drehte wegen ihrer Schuhe durch, was Sue wiederum toll fand, weil diese Frau sie sonst genauso links liegen lassen würde wie Paula, die Maskenbildnerin. Andererseits war es erbärmlich, nur wegen seiner Schuhe bemerkt zu werden. Aber es war nicht nur Fiona. Diese ... ja, was war es eigentlich ... diese Zweitrangigkeit zog sich durch ihr ganzes Leben. Sie war immer nur existent in Zusammenhang mit jemand anderem. Die Frau/Managerin/Agentin von Terence, die Mutter von Amy und Philipp, die Tochter von Franz und Annemarie Wallner, die arme Halbwaise, die mit 15 ihre Mutter verloren hatte und dem Vater mit ihrem Dickkopf ganz schön eingeheizt hatte. Wann hatte sie jemals für sich selbst gestanden? Was und wer zum Teufel war sie? Ein saurer Geschmack kroch aus ihrem Magen hoch. Zum Glück hatte sie noch eine Flasche Wasser in ihrer Handtasche. Sie trank mit unverhohlener Gier. Es schmeckte zwar schon etwas abgestanden, aber es tat dennoch gut. Doch die Frage blieb: Wer war sie? Oder noch besser: Wer war sie schon? Das Anhängsel eines ziemlich bekannten TV-Arztes. Bloß kein Selbstmitleid , schimpfte sie sich selbst. Mir geht es materiell gut. Ich bin für eine ganze Menge Menschen wichtig. Terence wüsste ohne mich nicht einmal, wo sich sein Verlag befindet. Ich organisiere alles, von Lesereisen bis zu Rechercheterminen, ich kümmere mich darum, dass die Praxis läuft.
Das sind doch alles keine Dinge, die man auf den Grabstein schreibt, flüsterte prompt ein böses Stimmchen , du hast kein eigenes Leben.
„Es kommt wahrlich nicht oft vor“, meinte Paula, während sie stirnrunzelnd das Gesicht von Terence musterte, „aber in diesem Fall muss ich Fiona zustimmen. Sie sehen wirklich aus, als hätten Sie eine unruhige Nacht hinter sich. Ich fürchte, heute müssen wir unter den Augen mit dem Abdeckstift ran.“
„Aber keinen zu dunklen“, warf Sue ein. „Letztes Mal sah er aus wie ein Brillenpanda.“
„Echt?“, erwiderte Paula und runzelte die Stirn. „Ah, da war ich in Urlaub. Wer hat mich vertreten? Wahrscheinlich Terry. Die hasst alles, was heller ist als die Haut von Denzel Washington.“
„Es war Olivia“, meinte Sue.
„Olivia?“ Paula stemmte die Hände in die Hüften. „Dann wundert mich nichts mehr.“ Sie machte eine Pause und zögerte, weiterzusprechen, tat es dann aber doch. „Wahrscheinlich war sie noch in Gedanken beim Musical ‚Der König der Löwen‘. Seit sie dort die Gazellen schminken darf, kleistert sie alles und jeden mit Terracottapuder zu.“
Sues Kopf hämmerte. Sie betrachtete Terence, der schläfrig im Schminkstuhl saß und sich von Paula abpudern ließ. Es war, sie hatte nachgeschaut, das elfte Mal, dass Terence bei Sondra zu Gast war. Was waren sie bei der ersten Sendung aufgeregt gewesen! Drei Stunden zu früh waren sie erschienen, aus Angst, zu spät zu kommen. Wie hatten sie die prickelnde Atmosphäre genossen, den Duft der Schminke, die Kameras. Als die Sendung ein Erfolg wurde, schwebten sie im siebten Himmel. Dann gab es eine weitere Sendung. Und noch eine, und noch eine … Und jetzt herrschte nur noch Routine, zumindest für sie, die im Hintergrund agierte.
In der Luft hing der penetrante Geruch von Puder. Sie glaubte zu ersticken und musste husten. Niemand achtete auf sie. Wahrscheinlich könnte ich hier tot umfallen, dachte sie, und keiner würde sich dafür interessieren. Fiona würde sich natürlich schnell ganz unauffällig ihre Schuhe unter den Nagel reißen. Sue krallte sich ihre Tasche und stand auf. „Ich bin mal kurz weg.“
Zum Glück war niemand auf der Toilette, und mit einem tiefen, erleichterten Seufzen ließ Sue sich auf den Toilettensitz sinken. Sie stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel und legte den Kopf in ihre Hände. Ich will nie wieder aufstehen. Sie stellte sich vor, wie Terence sie suchte, wie er sein Hündchen vermisste, das alle Termine für ihn machte, seine Muse (ha ha, schöner Spruch, aber schon lange nicht mehr wahr), die ihm alles, was ihn in seiner Arbeit beeinträchtigte, vom Leib hielt (und das war mehr, als man für möglich gehalten hätte).
In der Stille ihrer Kabine spürte sie mehr als deutlich, wie müde sie war. Ich will hier nicht mehr raus. Da läutete das Handy und holte Sue aus ihrer Lethargie. Seufzend fischte sie es aus ihrer Tasche. Sie seufzte gleich noch einmal, als sie hörte, wer dran war. Melissa Brown-Harryman, die Vorsitzende des Elternbeirats von Philips Schule.
„Oh mein Gott Sue!“, schrie sie völlig hysterisch. “Bin ich froh, dass ich dich erreiche!“
„Was gibt’s denn?“, fragte sie träge.
„Eine Katastrophe! Margret fällt aus, sie kann nicht kommen!“
Diese Art Katastrophe war nicht von der Art, die Sue aus ihrer Apathie reißen konnte. Sie raffte sich lediglich dazu auf, sich etwas aufrechter hinzusetzen. „Wieso kann sie nicht?“
„Margret hat kurzfristig einen Termin bei Home and Country für eine Home Story bekommen! Obwohl ich das nicht kommentieren möchte“, fügte sie mit leicht pikiertem Unterton hinzu. „Es hat etwas Vulgäres an sich.“
Und mein Mann spricht im Fernsehen über schlappe Schwänze, dachte Sue. Wie vulgär findet Melissa Brown-Harryman wohl das? „Wo ist das Problem? Ich bin doch sowieso eingeteilt.“
„Könntest du eine Stunde eher kommen?“, keuchte Melissa. „Wir haben niemanden für den Würstchenstand.“
Sue riss gedankenverloren das Toilettenpapier in dünne Streifen.
„Sue! Ich höre dich nicht! Bist du noch dran?“
„Ja, ja“, murmelte Sue und überlegte, welche Origami-Figur man aus dem Papier falten könnte. „Würstchenstand. Okay. Wann muss ich da sein?“ Die frische Luft würde ihr sicher gut tun, und Terence kam mit Sondra wunderbar alleine zurecht.
„Sue, du bist ein Schatz!“, jubilierte Melissa. „Also dann in einer Stunde. Ich zähle auf dich!“
„Wie schön“, murmelte Sue und drückte Melissa weg.
Ihr Blick fiel auf ihre Tasche. Das luxuriöse Leder schimmerte sanft im Neonlicht. Da drinnen waren sie, die Tabletten, die alles ein wenig leichter machen würden. Sie wusste, dass sie in letzter Zeit gefährlich viel von diesen Dingern genommen hatte. Aber dieses Absinken in die Müdigkeit konnte sie sich nicht leisten. Sue dachte an die Würstchen, an die Fernsehsendung. An die Abrechnung, die sie noch zu erledigen hatte, wahrscheinlich in einer Nachtschicht. An das Verlagsgespräch heute nach dem Schulfest, bei dem die große Lesereise von Terence besprochen werden musste. Was für ein Tag! Und das nach dieser Nacht. Sue streckte ihr Bein aus. Es zog unangenehm. Und dann war da noch am nächsten Tag die Geburtstagsfeier ihres Schwiegervaters auf dem Familienstammsitz. Sie dachte an die drei Kilo zu viel, die sie immer noch mit sich herumschleppte. Wie praktisch, dass dieses Aufputschzeug auch appetithemmend wirkte, zwei Kilo hatte sie schon abgenommen.
Sie riss die Tasche an sich wie eine Ertrinkende den Rettungsring und ließ den Verschluss aufschnappen. Schön sah die Verpackung aus, pastellfarben, apricot und grün. Optimistisch, Freude versprechend. Den Beipackzettel legte sie gleich weg, da stand sowieso nur das drin, was sie jetzt nicht sehen wollte. Sie arbeitete sich zielstrebig zum Blisterstreifen vor. Nur blöd, dass sie zum Hinunterschlucken Wasser brauchte und ihre Flasche in der Maske vergessen hatte. Sie wäre so gerne einfach hier sitzen geblieben. Langsam wurde es hier richtig gemütlich. An sich nestelnd und zupfend wand sie sich hoch, ohne die Tabletten aus der Hand zu geben.
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