Der Morgen danach. Die Sonne strahlte trügerisch auf eine Mauer des Irrsinns, die vor seinen Augen endete oder bereits früher. Er war sich darin nicht sicher, nein, er wusste es nicht. Doch fühlte er den Schmerz, einen Schmerz, der pochte, unmittelbar hinter seinen Schläfen pochte er, in Moll, gastierte dort, kaum Pausen einlegend, eigentlich gar keine, mal massiv, mal tröpfchenweise, aber immer aktiv, sozusagen allgegenwärtig.
Oscar war erschöpft. Er würde heute keinen Widerstand mehr leisten. Er war willens, sich auf das Wenigste zu beschränken, auf eine Realität im Schattenriss. Ihm war sehr bewusst, dass das, was geschehen war, einen tiefen Einschnitt, eine Wendemarke, eine Zäsur bezeichnete. Jedem, der betroffen war, musste das bewusst sein. Er dachte an Vorgestern, an das Treffen mit Pepe. Da war der See der Ereignisse schon schlammig gewesen, aber die Luft noch klar.
"Hier, ich schenke sie dir."
"Ein Kompass w ä re mir lieber. ”
Pepe gab ihm die Uhr. Oscar bedankte sich mit einer angedeuteten Verbeugung. Sein unhörbares Gemurmel machte diese Geste obsolet. Pepe verkaufte seit kurzem Zeitmesser. Er hatte sie werweißwoher. Er trug sie, nach klassischer Hehlerart, am Innenfutter seines Jacketts. Sie saßen zusammen im Jardin du Luxembourg . Es war warm. Die Vögel jubilierten. Oskar wog das Teil in der Hand. Es hatte die Form eines Bullauges. Und einen Deckel. Öffnete man den, fand sich, an der Innenseite, erhaben, eine Inschrift: Chronochrom . Und darüber, mit einer Klammer befestigt, ein Stück Papier. Entfaltete man dasselbe, las man:
Dies ist keine gew ö hnliche Uhr. Du kannst auf ihr die Zeit verstellen... die reale Zeit. Aber du kannst sie nur vorstellen, nicht zur ü ck. Geh also achtsam mit ihr um .
Er lächelte grimmig, während ihn gleichzeitig ein diffuses Frösteln befiel. Wäre dem wirklich so, wie es da zu lesen stand, er würde keinen Gebrauch davon machen. Dessen war er sicher…
Oscar fasste mit der Hand in die Tasche seiner Anzugjacke. Seine Finger umschlossen kühles, rundes Metall. Er spürte das Ticken darunter. Er atmete nervös. Es gab kein Ende. Es würde nie ein Ende geben. Denn selbst der Tod setzte keines. Denn er kam ja immer wieder. Denn er hatte ja nie genug. Er war so unersättlich wie seine menschliche Beute, solange sie noch am Leben war. Über das Nachher wusste man ja bekanntlich nichts.
Oscar schaute sich um. Er brauchte dringend einen Stimmungsaufheller. Er steuerte das nächste Bistro an. Es flüsterte ihm zu, was er hören wollte: Besucher wie du sind stets willkommen . Regen kam nieder, klebrig und laut, mit einer übermäßigen Quart; man konnte nicht weit sehen. Es war, als litt der gesamte Planet an Wassersucht.
Die Erde drehte ihren ewig trächtigen Leib… Kerze gerade, Möhre krumm . Text aus einem Schlummerlied. Er hatte es für sich selber intrinsisch in Töne umgesetzt. Er trank den bestellten Wein und tat, was er in solchen Momenten gerne tat. Er haderte mit sich, abseits des Weltgeschehens, schalt sich einen, der zu nichts nutze ist, oder einen, der zu lange alles richtig machen wollte und doch vieles falsch anfasste, selten imstande, das einzulösen, was er sich vorgenommen oder anderen in Aussicht gestellt hatte.
Üb das noch einmal, Oscar! So hallte es seit undenklichen Zeiten in seinem Hinterkopf trommelnd nach, das gestrenge, kolossale Echo seiner Mutter, wenn er am Piano sein Spiel zu verbessern gesucht hatte. War es nicht letztlich alle Tage so gewesen? Sie war es, die einst für seine Klavierstunden aufgekommen war, von ihrem Ersparten, nicht etwa der Vater. Darauf hatte sie stets Wert gelegt. Und heute?
Er war nicht so betrunken, wie er gerne gewesen wäre. Bevor er sich am Ende dieses Tages ins Bett legte, masturbierte er, was ihm gerade noch gelang. Er hatte vergeblich versucht, Saloua zu erreichen. Sie schien wie vom Erdboden verschluckt. Auch Mohun blieb unsichtbar. Oscar schlief ein unter Tränen. Das ganze dunkle Verhängnis im Nacken. Das Rapzodie war ausgebrannt. Ferenczy war tot. Schrecken und Ohnmacht. Grabesstille. Kain erschlug Abel. Oder war es umgekehrt?
Er schließt hinter sich ab.
Dann legt er Hand an sich, mechanisch, bei herab gelassener Hose. Er macht sich nicht die Mühe, sie auszuziehen. Das Ganze dauert kaum länger als eine Runde Zähneputzen. Dann wäscht er sich, guckt aus dem Fenster des Badezimmers, zu der Zypresse hinüber, die heftig im Wind schwankt und dabei aussieht, als sei sie lebensmüde. Es sieht natürlich nur so aus. Dann brabbelt er vor sich hin, wie er es manchmal tut: Das, was man das Jenseits nennt, ist im Buch des Lebens doch lediglich der Verweis auf eine noch unaufgeschnittene Seite.
Sie waren in der Kirche, Constanze und er, an diesem Morgen. Es war eine dieser jähen, spontanen Einfälle, die seine Frau gelegentlich heimsuchen. Es war die Kirche im nächst gelegenen Ort, ein katholisches Gotteshaus. Sie sind beide nicht katholisch.
Heute ist Sonntag. Das Gotteshaus zeigte sich in der Frühe recht gut besucht. Der Geistliche, ein schmaler alter Mann, hielt eine Predigt. Sie war kurz. Jemand spielte die Orgel. Eine Bachsche Fuge, wie Oskar herauszuhören meinte. Er glaubte noch etwas zu hören. Er hörte sich mit dem Priester plaudern und diesen etwas sagen und sich dann etwas fragen (frei nach Karl dem D ü nnen ):
“ Der Ort der Erl ö sung, mein Sohn, liegt jenseits unserer Vorstellung. ”
“ Und wo ist das genau?”
“ Irgendwo im Nirgendwo.”
“ Oh, ich glaube, da war ich schon einmal. ”
Und dabei kam er sich vor wie ein Ministrant, der die Glocke läutet. Er und Constanze setzten sich nach dem Gottesdienst noch in ein Café. Die Wetterlage zwischen ihnen entsprach in weiten Teilen der himmlischen, zarte Schäfchenwolken mit winzigen Schaumkronen.
“ Der Geistliche eben erinnerte mich an meinen Bruder. ”
“ An den j ü ngeren oder den ä lteren? ”
“ Den älteren.”
“ An Jakob also. Und worin? Ä u ßerlich? ”
“ Nein. In der Art, wie er redete, in der Stimme, in den Bewegungen. ”
Constanze trinkt von ihrem Kaffee. Oskar hat sich zusätzlich eine tarte aux pommes kommen lassen. Sie greift, noch ehe er davon zu essen begonnen hat, nach der Gabel und genehmigt sich ein Stück, was er mit einem Runzeln im Unterholz seiner Stirnfalten quittiert. Plötzlich weist seine Hand über den Platz, an dem die Terrasse des Cafés liegt.
“ Schau mal! ”
“ Was? ”
“ Dort dr ü ben! ”
“ Das kleine M ä dchen? ”
“ Ja... Himmel! Hat man je eine so auf blü hende Sch ö nheit gesehen? ”
"Sehr anmutig, die Kleine, aber, du weiß t ja... Sch ö nheit vergeht."
"Sicher, Schatz. Das Leben doch aber auch."
"Nur leider in aller Regel sp äter."
“ Tr ö ste dich. Wirklich sch ö n ist nur, was traurig endet. “
“ Und wenn es so w ä re, es tr ö stet mich ü berhaupt nicht. ”
“ Bestellen wir noch einen Calvados zum Kaffee? ”
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