Da niemand einen besseren Vorschlag machte, nahmen sie ihn an und liefen nun weiter. Abgesehen von Kyros, der bemüht war, sich mit dem Fahrrad auf den Beinen zu halten, suchte jeder krampfhaft nach einem Gesprächsthema, was ihnen aus verschiedenen Gründen nicht gelang. Rinoa fiel nichts Gescheites ein, da sie zu aufgeregt war, und weil sie die Nervosität nicht auf die anderen übertragen wollte, schwieg sie und grübelte weiter. Nakata war viel zu erschöpft, um nachdenken zu können, und Rose gab es nach einer Weile auf und triftete schließlich in ihre eigene Gedankenwelt ab. Wie lange war es nun schon her, als es angefangen hatte? Sechs oder sieben Jahre? Auf jeden Fall war doch damals fast alles normal gewesen. Zugegebenermaßen – ihr Bruder war schon immer bevorzugt worden, doch früher erschien ihr das nicht wichtig. In vergangener Zeit war sie nicht allein gewesen, denn ihr älterer Bruder hatte vor ein paar Jahren noch zu ihr gehalten. Ja, zu diesem Zeitpunkt war ihre Welt in Ordnung gewesen. Sie hatten früher jeden Tag zusammen gespielt, obwohl er ganze zwei Jahre älter war als sie. Sie beide hatten die coolsten Streiche miteinander ausgeheckt und waren durch dick und dünn gegangen. Man könnte sogar behaupten, dass sie die besten Kumpel waren. Sie hatten viel Spaß miteinander gehabt und er war es gewesen, der sie immer getröstet und ermuntert hatte, wenn ihre Eltern sie, wie so oft, ungerecht behandelt hatten. In seinen Armen hatte sich Rose immer sicher und geborgen gefühlt – bis ihr Bruder zum ersten Mal …
„Da! Hier führt ein Weg ein bisschen weiter rein ins Dickicht!“
Rose wurde von Rinoas freudigem Ausruf aus ihren düsteren Gedanken gerissen und sie war ihr dafür dankbar. Ohne ein Wort abzuwarten, eilte Rose voraus, froh ihren erdrückenden Gedanken entkommen zu können. Die anderen folgten ihr. Dann blieben sie fassungslos und gleichzeitig staunend stehen. Sie blickten auf eine riesige Lichtwand, die sich vor ihnen auftat und eine idyllische Welt präsentierte. Dahinter war ein großer Wasserfall zu sehen, doch statt Wasser floss Schokolade! Paradiesische Vögel ließen melodische Klänge verlauten und farbenfrohe Schmetterlinge zierten die Luft. Hinter großen grünen Farnen und Bäumen, die Fabelwesen glichen, zeigte sich ein unbekanntes Dorf, geheimnisvoll wie Atlantis. Der Duft von Schokolade und Blumen durchzog die Luft und ließ die Jugendlichen ehrfurchtsvoll erzittern.
„Kann mich mal jemand kneifen … bitte?“, fragte Rinoa, ohne jedoch aus ihrer Starre vollkommen erwacht zu sein. Es war ihr, als wären dies nicht ihre eigenen Worte gewesen, zu fremd klang ihre Stimme in diesem Moment. Rose fing plötzlich an, sich langsam Schritt für Schritt der schillernden Lichtwand zu nähern. Diese zweite Welt bewegte etwas in ihr – ja, sie erinnerte sie an früher! Damals hatten ihr Bruder und sie sich eine eigene Welt ausgemalt und selbst in Gedanken gestaltet. Es war immer ihr gemeinsamer Traum gewesen. Wie konnte es möglich sein, dass ihre Freunde und sie selbst diese Welt nun sahen? So nah, direkt zum Anfassen …
Rose berührte die flackernde und schimmernde Wand. Ein leichtes Zischen erklang, kaum wahrnehmbar, und eine seltsam angenehme Wärme durchströmte sogleich ihren gesamten Körper. Sie wollte in diese Welt! Sie musste in die andere Welt, die so friedlich vor ihr lag.
Ein leichter Windhauch umgab sie plötzlich. Die Dämmerung färbte die Bäume in ein seichtes Lila und ließ den Wald wie ein Feenland aussehen. Alles zusammen wirkte lähmend – irgendwie betäubend und berauschend zugleich. Jeder von ihnen wusste mit einem Mal, dass jetzt etwas passieren musste und würde.
„Schön, nicht wahr?“
Ruckartig drehten sich die Freunde in die Richtung um, aus der die dunkle und verführerische Stimme kam. Vor ihnen stand eine von oben bis unten verhüllte Gestalt. Sie trug einen dunkelblauen Umhang, der sich seicht im Wind bewegte, und weiße Handschuhe. Das Gesicht wurde fast vollständig von einem dichten Tuch verdeckt, welches nur die rot funkelnden Augen frei ließ, die eher zwei Schlitzen glichen. Sie schienen die Jugendlichen geradezu hypnotisieren zu wollen.
„Wer zum …“, setzte Kyros an, wurde jedoch durch eine abwehrende Gestik des Umhüllten zum Schweigen gebracht.
„Wer ich bin, ist ohne jegliche Bedeutung für euch. Doch ihr Menschen seid so unheimlich neugierig. Für euch genügt es zu wissen, dass ich der Passant bin“, säuselte er, wobei seine roten Augen bedeutungsvoll anfingen zu glühen. Nakata zitterte am ganzen Leib, denn die Gestalt war ihr nicht geheuer. Sie versteckte sich ängstlich hinter Rinoa, die sie kaum zu verdecken vermochte, da sie von Natur aus sehr schmal war.
„Was willst du?“, zischte Kyros die Gestalt regelrecht an. Ihm war der seltsame Typ unheimlich. Vielleicht war er ein Perverser, der sich an den Mädchen vergreifen wollte oder ein Dieb, ein Mörder … jedenfalls würde er seine Freundinnen beschützen. Kostete es, was es wollte!
„Nicht so aggressiv! Ich möchte euch lediglich ein Angebot machen, das euch interessieren wird.“
Er deutete auf die Lichtwand und ließ sie durch seine Handbewegungen Schwingungen erzeugen. Kyros schluckte nervös. Der Fremde musste mit dieser Illusion in Verbindung stehen. Fragte sich nur: wie?
Rose musterte den Passanten bewundernd. Er erinnerte sie an einen Zauberer, an einen richtigen Magier, nicht an so einen, der im Fernsehen falsche Tricks vorführte. Er faszinierte und elektrisierte sie zugleich. Wie gern würde sie das Gesicht sehen, zu dem diese verführerische Stimme gehörte.
„Ich bin einer der Hüter für das, was ihr eine andere Welt oder eine zweite Dimension nennt. Wie ihr sehen könnt, liegt ein Paradies hinter dieser Wand. Dieses zu bewahren, ist unsere Aufgabe. Nur Auserwählte dürfen in diese Welt einkehren.“
„Und was haben wir damit zu tun?“, fuhr ihn Kyros grob und misstrauisch an.
Der Passant wirkte etwas gekränkt, denn nun schwang ein leicht missmutiger Unterton in seiner Stimme mit und seine Augen hatten einen matten Schimmer angenommen.
„Ich zeige mich nicht jedem! Ich erscheine nur den Auserwählten. Und ihr seid meine Auserwählten! Ich gebe euch die Chance, in eine perfekte, vollkommene Welt zu gelangen – in diese Welt mit all ihrer Magie und einzigartigen Wesen!“
Er deutete auf die Lichtwand und der sich dahinter befindenden Landschaft.
„Und wer sagt uns, dass wir dir trauen können und du kein durchgeknallter Psychokiller bist? Wer soll dieses ganze abgedrehte Gequatsche von wegen Hüter, Paradies und Auserwählten glauben?“
Kyros blieb misstrauisch. Das alles erschien derart unecht. War so etwas überhaupt möglich? Er selbst war nie ein großer Freund von Mystik und Übernatürlichem gewesen.
„Ich glaube ihm!“, Rose trat selbstsicher einen Schritt näher. „Ich vertraue dem Passanten!“
Erstaunt und geschockt sahen die drei ihre Freundin an und wollten ihren Ohren nicht trauen. Der Passant jedoch nickte zufrieden und fuhr fort.
„Um in diese Welt der Vollkommenheit zu gelangen, müsst ihr eine Prüfung bestehen … ihr müsst euch nur noch entscheiden. Wollt ihr es wagen? Ja oder Nein? Eure Antwort ist endgültig und kann nicht mehr zurückgenommen werden. So trefft eure Entscheidung mit Bedacht!“
„Was ist … was ist, wenn wir ablehnen?“, fragte Rinoa eingeschüchtert und völlig überfordert mit der Situation. Sie konnte noch immer nicht begreifen, was gerade passierte.
„Dann werde ich eure Erinnerungen an unser jetziges Treffen löschen. Ihr werdet weiterleben, so als ob ich euch nie begegnet wäre. Also: Ja oder Nein? Entscheidet euch - jetzt!“
„Meine Antwort ist Ja!“
„Rose!“, schrie Kyros entsetzt, „bist du denn total irre?“
Rose drehte sich langsam zu ihm herum.
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