„Wertlos – datt bischte! Wie deine olle Mudder. Zu nischts zu gebrauche! Du Schmarotzer, du!“
Das Geschrei seines Vaters vermischte sich mit dem Geräusch des niedersausenden Gürtels zu einer rauschenden und ohrenbetäubenden Einheit. Und als Kyros auf dem Boden lag und es um ihn herum immer dunkler wurde, dachte er nur daran, dass er heute schon wieder zu spät zu den verabredeten Treffen im Jugendklub kommen würde, wenn er es überhaupt dorthin schaffen sollte …
*
„Ach Mensch, wo bleibt der denn nur?“
Rinoa hüpfte in dem überschaubaren Jugendklub, besorgt und beunruhigt zugleich, von einem Bein auf das andere, wie ein auf den Boden geworfener Gummiball. Es war nichts Neues, dass ihr Kumpel Kyros zu spät kam, jedoch waren meist unerfreuliche Zwischenfälle mit seinem Vater die Ursache. Eine schlechte Vorahnung hatte sich über die Sechzehnjährige erdrückend niedergelegt wie eine mit Wasser vollgesogene Wolldecke.
Rose betrachtete sie schweigend und hing ihren Gedanken nach. Ihrer Meinung nach hatte Rinoa außer ihrer elfenhaften Figur nichts Besonderes, aber dennoch wirkte sie irgendwie anziehend und sehr attraktiv auf andere Leute, insbesondere auf Jungs in ihrem Alter. Was fanden nur alle an ihr? Wieso war jeder so verrückt nach ihrer Freundin? Es konnte doch nicht sein, dass ein Mensch allein die Gunst aller anderen auf sich zog, während der Rest einfach nur als simple Dekoration wirkte.
Sie konnte nicht leugnen, dass sie eifersüchtig war. Wie gern würde sie ihre kurzen blonden Haare und ihre hellen Augen, dessen Farbe keiner so richtig zu deuten wusste, gegen die hellbraunen schulterlangen Haare und die mandelförmigen, nougatbraunen Augen von Rinoa eintauschen. Natürlich durfte der braune Teint ihrer Freundin nicht fehlen, denn sie selbst sah wie ein blasses Leinentuch aus, da halfen ihr ihre wohlgeformten Rundungen auch nicht.
Es war einfach nicht fair! Das männliche Geschlecht schien auf alles zu stehen, was einen ausländischen Touch hatte. Rinoa konnte jeden haben, wollte jedoch keinen einzigen von ihnen. Sie selbst schien nur auf hässliche und perverse Männer eine gewisse Anziehungskraft auszuüben. Auf diese konnte sie gerne verzichten. Trotzdem mochte sie Rinoa sehr. Sie war ihre beste Freundin. Rose hasste sich selbst für ihre negativen Gefühle, die sie nicht immer zu verbergen mochte. Was war sie nur für ein Mensch? Sie wollte diese Emotionen nicht haben, wollte nicht so denken, jedoch vertreiben ließen sie sich nicht. Sie waren wie ekelhaftes, großes Ungeziefer, das in Scharen über sie herfiel und ihren Verstand vollständig zu verschlingen drohte. Schnell versuchte sie, ihre fiesen Gedanken beiseitezuschieben, wenigstens für ein paar flüchtige Augenblicke, und versuchte sich auf Rinoa zu konzentrieren, die immer noch ununterbrochen vor sich hin brabbelte wie ein hyperaktives Kleinkind.
„Wenn er bloß nicht wieder mit seinem Vater zusammen gestoßen ist …“
Rinoas Augen weiteten sich angsterfüllt bei ihren eigenen Worten, dann blickte sie hoffnungsvoll und gleichzeitig sehnsüchtig bittend in Richtung der Eingangstür und ihr Gesicht erhellte sich augenblicklich, als diese aufgezogen wurde. Jedoch handelte es sich bei dem Besucher nicht um ihren Kumpel.
„Nakata!“, rief sie erfreut und eilte auf das zarte, ebenfalls sechzehnjährige Mädchen zu, die gerade mit leicht gesenktem Kopf durch die Tür schlurfte. Stürmisch wurde sie von Rinoa zur Begrüßung in die Arme genommen. Doch als ihre Freundin merkte, wie sie dabei zusammenzuckte, ließ sie sie sofort wieder los. Sowohl Rose als auch Rinoa beschlich ein ungutes Gefühl. Irgendetwas war geschehen, etwas Schlimmes, denn so verängstigt hatten sie die Gleichaltrige noch nie zuvor gesehen.
„Was ist passiert?“, schockiert starrte Rinoa in Nakatas bleiches Gesicht. Langsam hob die zierliche Jugendliche den Kopf und ihre zu Fäusten geballten Hände zitterten bei dem Versuch, ihre Tränen zurückzuhalten. Sie öffnete den Mund, doch aus ihrer Kehle drang nur ein erbärmliches Krächzen. Rinoa biss sich auf die Lippen und nahm ihre Freundin behutsam in die Arme. Das genügte für Nakata, den Kampf gegen ihre Tränen endgültig aufzugeben. Nun ließ sie all ihrer zurückgehaltenen und aufgestauten Verzweiflung, Angst und ihrem Schmerz freien Lauf.
*
Rose wartete ungeduldig am Eingang des Jugendklubs, als Kyros endlich mit seinem alten Fahrrad ankam. Unsicher stieg er von dem klapprigen Drahtesel ab und schwankte auf Rose zu. Sie erschrak, denn er sah übel aus. Sein rechtes Auge war blau geschlagen und genau wie seine blutige Lippe dick angeschwollen. Sein Blick war trüb und er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Wie er es geschafft hatte, mit seinem Fahrrad hierher zu gelangen, blieb ihr ein Rätsel. Rose betrachtete ihn einen Augenblick lang betrübt und tiefes Mitgefühl überströmte sie, doch sie wusste, dass er Mitleid hasste. Deswegen versuchte sie, sich nichts anmerken zu lassen, und eilte sofort zu ihm, um ihn gegen seinen Willen zu stützen. Kyros hatte noch nie gerne Hilfe angenommen – er lehnte grundsätzlich jede Hilfestellung ab, wenn es um ihn ging. Allerdings konnte ihn selbst nichts und niemand aufhalten anderen zu helfen.
Er taumelte von ihr weg, als er ihre Absicht erkannte, aber es war schon zu spät und Rose war an seiner Seite. Da er nur zu gut wusste, welchen unüberwindbaren Dickkopf sie besaß, wehrte er sich diesmal nicht weiter. Dazu war er viel zu müde.
„Erwarte bloß kein ‚Dankeschön’ von mir!“, brachte er deshalb fast tonlos und resigniert hervor.
„Dachte ich mir schon. Kein Ding“, gab sie mit einem traurigen Lächeln zurück, was er allerdings nicht bemerkte. Jedoch verharrte sie mit ihm vor dem Clubhaus und ging nicht gleich mit ihm hinein. Ungeduldig blickte er sie an und sie ließ nicht länger mit der Erklärung auf sich warten.
„Du hör mal: Anscheinend hat es uns heute alle etwas übel erwischt … besonders dich und … Nakata. Wenn wir jetzt reingehen – versprich mir, sie nicht darauf anzusprechen, nicht nachzubohren und zu löchern, sondern dich ganz ruhig zu verhalten. Und vor allen Dingen, werde nicht wütend.“
Seine Augen wurden etwas schmaler und er besah sie sich misstrauisch. Das Ganze widerstrebte ihm, doch er musste einsehen, dass Rose vermutlich recht hatte. Deshalb ergab er sich ihrer Predigt und nickte nur stumm. Sie atmete erleichtert auf, denn sie hatte mit Widerstand gerechnet.
„Sie hat vorhin viel geweint und sich etwas ausgesprochen … nicht alles, aber das, was ich gehört habe, hat gereicht, um meinen Magen umzudrehen. Bitte hilf uns sie abzulenken und erinnere sie nicht wieder an diesen schrecklichen Vorfall mit ihrem Stiefvater, bitte!“
Sie blickte ihn eindringlich und beschwörend in die Augen. Dieses viele Flehen war nicht ihre Art, doch Rose wusste von seinem ausgeprägten Schutzinstinkt gegenüber Schwächeren, dazu gehörten vor allem weibliche Personen und Kinder. Wenn sie ihn nicht eindringlich darum bitten würde, dann wäre das Chaos vorprogrammiert. Da war sie sich völlig sicher, denn immerhin kannte sie ihn jetzt fast drei Jahre lang, wobei sie ihn schon oft in Rage erlebt hatte und gerade das konnte Nakata nun nicht gebrauchen. Kyros verdrehte leicht die Augen, denn Diskussionen standen ebenso hoch oben auf seiner „Nicht-Mögen-Liste“ wie Vorschriften und Mitleid.
„Ja, verdammt. Ich hab’s kapiert“, zischte er etwas ungehalten, worauf ihm Rose einen strafenden Blick zu warf. Dann traten beide ein.
*
Rinoas Augen weiteten sich an dem Tag zum dritten Mal vor Entsetzen. Dieses Mal als Rose und Kyros gemeinsam eintraten. Beim Anblick ihres brutal zugerichteten Freundes setzte ihr Herz einen Schlag lang aus. Sie fasste sich im nächsten Moment gleich wieder, wollte sie doch Rücksicht auf Nakata nehmen und Stärke ausstrahlen, aber ihre Freundin schien von seinem Anblick ebenso erschrocken zu sein.
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