Ich nahm die Mäntel der beiden vom Kleiderhaken und reichte sie ihnen.
„Danke, Sie sind der perfekte Gastgeber, aber Sie brauchen uns nicht in den Mantel zu helfen“, sagte der kleine Dicke lachend.
„Das hätte ich allein deshalb nicht gemacht, weil sie sportlich ausschauen“, antwortete ich. Tatsächlich sahen sie wie zwei unsportliche, bürokratische Sesselfurzer aus. Dann fügte ich hinzu, weil es mir tatsächlich erst jetzt einfiel: „Und entschuldigen Sie bitte, dass ich vergessen habe, Ihnen etwas zu trinken anzubieten. Aber Ihr Besuch kam so überraschend, dass ich …“
„Keine Sorge“, sagte der Dicke, „das holen wir jetzt nach.“ Und weg waren sie.
Irgendwie hinterließ der Besuch etwas Menschlich-Normales und doch auch etwas Unheimliches. Natürlich musste ich wieder an meinen aktuellen Lesestoff von George Orwell denken: »1984«. Dazu diese trübe Novemberstimmung. Da war jetzt die Sauna genau der richtige Ort.
*
Die ersten Besucher der Saunarunde kamen einfach herein. Die Tür war wie an jedem Saunaabend nur angelehnt. Ich hatte die Klingel abgestellt, damit die Kinder nicht geweckt wurden. Trotz Großstadt-Trallala hatten wir dieses grenzenlose urbane Vertrauen. Es wurde acht Jahre später heftig erschüttert.
Moni brachte ihren traditionellen Nudel-Salat mit, den ich nicht ausstehen konnte, weil sie ihn regelmäßig mit Mayonnaise überfrachtete. Ihr Mann, Logistiker bei REWE, brachte gebratene Hähnchenteile mit. Gunnar war früher ein Liebhaber knuspriger Hähnchenschenkel gewesen. Wenn er sich daran hörbar erinnerte, tätschelte er – Sigmund Freud ließ grüßen – die Oberschenkel seiner Liebsten. Er beschaffte die Hähnchen bei einem Bauernhof im Vogelsberg, wie er immer aufs Neue zu betonen pflegte. Auch unsere ewig gackernde Moni stammte aus dem Vogelsberg, jenem herrlichen Naturfleck zwischen Gießen und Fulda. Was die Hähnchenbeschaffung betraf, glaubte ich ihm auf‘s Wort. Emma glaubte ihm kein Wort. Dennoch wurde Gunnar sechs Jahre später Prokurist unserer Unternehmen, was wir jetzt noch nicht ahnten.
Erstaunlich war, dass er, der Hähnchenbeschaffer, seit Neuestem Fleisch verabscheute. Er war nun einer der ersten männlichen Vegetarier.
Nur Moni konnte er nicht auf den Vegetarier-Kurs zwingen; ganz im Gegenteil. Je mehr er von seinem vegetarischen Leben schwärmte, desto versessener schien sie heimlich Schnitzel und gelegentlich Hähnchenschlegel beim Metzger um die Ecke zu genießen. Wenn Gunnar und ihr gemeinsamer pubertierender Sohn Philip mittags noch nicht zu Hause waren, schlich sie sich davon und täuschte für die beobachtende Nachbarschaft einen Familieneinkauf vor. Per Zufall hatte ich sie einige Male beim Metzger getroffen. Mein Gott, ich wollte sie dort nicht treffen! Und meine Güte, ich gehörte nicht zur beobachtenden Nachbarschaft – was man von Moni nicht behaupten konnte.
Wohl deshalb fragte sie mich jetzt ein wenig aus.
„Wer waren denn die beiden Herren, die da vor eurer Haustür standen?“
Ich wusste sofort, wen sie meinte. Da aber gerade der zweite Schub an Saunagästen zur Tür hereinströmte, sagte ich: „Erzähl‘ ich dir später. Das ist eine längere Geschichte. Was ich dich fragen wollte: Macht Philip eigentlich die Essenspläne seines Vaters mit?“
Philip wuchs nun in seinem sechsten Lebensjahr schon voll vegetarisch auf. Und er war dennoch – wahrscheinlich aber gerade deshalb – sehr gut in der Schule, wie Moni und Gunnar unentwegt betonten. In seiner Klasse, in der die fleischfressenden Freunde noch weit in der Überzahl waren, war er jedoch in jeglicher Hinsicht Einzelgänger.
„Er schreibt schon wie ein Siebtklässler“, sagte Moni stolz. „Und er hat das Mathetalent seines Vaters geerbt, was ich neidlos zugestehen muss.“
„Vegetarisch bedingt?“, fragte ich.
Sie gackerte.
Als Gunnar sich etwas abseits mit dem gerade hinzugestoßenen Ärztepaar Anne und Tobias unterhielt, flüsterte sie mir zu: „Bitte keine Bemerkung über meine Balkonaktivitäten.“
Erst stutzte ich einen Moment, dann musste ich lächeln und antwortete mit einem klaren: „Ehrenwort!“
Auf Monis Balkon, über den wir uns zuwinken konnten, rauchte sie – auch hier heimlich und verschwörerisch – ihre ansonsten auf dem Küchenschrank sorgsam versteckten Zigaretten. Gunnar hatte das Rauchen strikt untersagt, „da man der Jugend kein falsches Vorbild abgeben darf“, wie er, der pädagogisch stets »on top« war, betonte.
„Wenn ich mein Zigarettchen morgens und mittags nicht rauchen kann, werde ich fett. Ich explodiere dann regelrecht und mein Mann wird mich von einer Diät zur anderen jagen“, flüsterte sie weiter. „Ich habe jetzt schon drei Kilo zu viel drauf!“
Die kleine Blondine war gut proportioniert, aber keinesfalls hatte sie eine jener vielen Brigitte -Diäten nötig, die seit einigen Jahren das besondere Geschenk der Unternehmerfamilien Gruner und Jahr an die neue ernährungsbewusste Welt der Feministinnen war. Mit Diäten ließ sich neuerdings gut Umsatz machen.
Inzwischen hatte Gunnar seine Nachbarn Anne und Tobias tief in pädagogische Austauscherfahrungen über ihre beiden gleichaltrigen Söhne verstrickt.
„In Sachen Ordnungssinn bin ich strikt!“ Gunnar hatte drei Wände des Kinderzimmers mit halbhohen Schubladenregalen versehen, und jede Schublade hatte eine große Überschrift mit etlichen kleinen Unterpunkten. Ein perfektes, bis ins Kleinste ausgeklügeltes Ordnungssystem, das einem jungen Menschen das Schubladendenken unheimlich nahe bringen musste.
Anne, die fast-promovierte Arztfrau – sie hatte kurz vor der Heirat die Doktorarbeit abgebrochen –, war jedoch keineswegs so ordnungsbegeistert wie ihr Nachbar und meinte: „Unsere Kinder brauchen Entfaltungsmöglichkeiten und müssen sich ihr Ordnungssystem vielleicht auch selbst erarbeiten, oder wie siehst du das, Gunnar?“
Gunnar sah es natürlich anders, denn sein Philip konnte – „freiwillig“, wie er betonte – noch etliche Schubladenregale aufstocken, was aus seiner Sicht genügend kreative Luft nach oben bot. Ich schwieg dazu und musste lächeln. Wahrscheinlich bewunderte ich insgeheim das Ordnungssystem. Aber gleichzeitig dachte ich: So wehrt sich die tief verinnerlichte alte Ordnungssehnsucht unserer Eltern und Großeltern gegen die erst eineinhalb Jahrzehnte frische Sehnsucht der 68er-Eltern nach mehr flexibler und kreativer Freiheit von genau dieser Ordnung.
Als Annes Mann Tobias, unser promovierter Diabetes-Experte, über verträgliche Menge und Art der Süßigkeiten für unsere Kids zu schwadronieren begann, war es Zeit, die Hüllen fallen zu lassen und zu duschen. Die Sauna war auf 80 Grad aufgeheizt, und so setzten wir unsere Unterhaltung schwitzend fort. Inzwischen waren auch Irmel und Arnd aus der Seitenstraße sowie ihr Untermieter, der 25-jährige Jungschauspieler Christian, eingetrudelt. Auch Doris, die im Nebenhaus wohnte und in Frankfurts Innenstadt einen gutsituierten Optik- und Hörgeräteladen betrieb, kam später dazu. Noch genoss sie ihr Single-Dasein, lag aber bei jeder Festivität auf der Lauer …
„Auf meinem Grabstein wird mal stehen »Sie war stets suchend und bemüht«. Ich werde euch für diese Inschrift jedenfalls von himmlischen Gefilden herab danken!“, sagte sie dann scherzend, wenn jemand versuchte, sie auf einen Mann aufmerksam zu machen.
Gib mir mal ‘ne Bottle Bier
Nach dem ersten Saunagang saßen wir um unseren Esstisch herum und tranken erst einmal aus Emmas Samowar, den sie auf Frankfurts Trödelmarkt am Main erstanden hatte. Tee mit Glühweingeschmack, der aber kein Glühwein war. Nun ja, dem Trend der Zeit entsprechend: mehr Schein als Sein, aber gewiss nicht ungesund, irgendwie, oder so oder vielleicht. Aromatisierte Teesorten waren »in«.
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