Terius hatte Antilius nebenbei anvertraut, dass er sich schon vor dem Picknick von seiner Frau verabschiedet habe, um sich keine Blöße vor den anderen geben zu müssen und seine wahren Gefühle zu zeigen. Er beschränkte sich daher darauf, Sivela noch einmal kurz zu umarmen.
Am Ende hielt er noch eine knappe Rede.
»An diesen Tag heute, an dem wir gelacht, gegessen und getrunken haben, werden wir uns immer erinnern, ganz egal, was morgen geschehen wird.
Die Welt da draußen versinkt im Chaos. Unser Land blieb bislang verschont, doch wird es nicht mehr lange dauern, bis die Schatten auch über unsere Stadt ziehen werden.
Meine Adepten, mein Bruder und ich werden im Dienste Eventumiens nach der Einsatzbesprechung beim Vogt noch heute aufbrechen, um das zu verhindern. Unser Beitrag wird nur einer von vielen anderen sein. Aber er soll sich lohnen. Und er wird sich lohnen, das verspreche ich euch.
Ich möchte nicht, dass dies ein Abschied ist, bei dem wir Lebewohl sagen. Ich sage zu euch auf Wiedersehen, denn wir werden uns wiedersehen.«
Antilius beobachte, wie es Sivela schwerfiel, ihre Tränen zurückzuhalten. Er konnte ihre Furcht nachfühlen, denn er ahnte, dass nicht alle von ihnen zurückkehren würden. Eine entscheidende Schlacht stand bevor, und Antilius, sein Bruder und die acht Adepten würden darin eine wichtige Rolle spielen. Er erinnerte sich wieder genau daran, welche Emotionen während dieses Momentes in ihm wühlten. Er fühlte sie jetzt genauso wie damals.
Terius wandte sich an seine Gefolgschaft. »Es ist Zeit. Lasst uns zum Vogt gehen. Wir sind schon spät dran.«
Sie verließen den Park, und Antilius trottete unentschlossen hinterher. Gilbert folgte ihm. Nur wenige Schritte hatte er gemacht, als Antilius noch einmal von Sivela aufgehalten wurde. Sie versicherte sich, dass Terius sich nicht nach ihnen umgedreht hatte und sagte: »Versprichst du mir, dass du ihn mir zurückbringst? Versprichst du mir das? Wenn er stirbt, dann habe ich auch keinen Grund mehr zu leben, das weißt du doch, oder?«
»Mach dir nicht so viele Sorgen. Ich verspreche dir, dass er zurückkommt«, sagte Antilius automatisch. Es wiederholte nur das, was er damals in der echten Vergangenheit gesagt hatte.
Sie gab sich mit diesem Versprechen zufrieden, nickte energisch mit erschöpften Augen und ließ ihn ziehen.
»Was ist das für eine Einsatzbesprechung? Was passiert jetzt?«, fragte Gilbert, während er und sein Meister wieder zu den anderen aufschlossen.
»Wir werden in die Schlacht gerufen. Die fünf Königreiche bündeln ein letztes Mal ihre Kräfte, um den Feind zu besiegen. Es ist der letzte Versuch, Thalantia vor dem Untergang zu bewahren.«
Terius führte seinen Bruder und seine Adepten zum Regierungssitz des Vogts von Eventum. Es war ein kleines unscheinbares Gebäude im Zentrum der Stadt. Sie wurden in einen großen hellen Raum geführt. Dort wartete der Vogt bereits auf sie. Zur Überraschung von Antilius und Gilbert, der natürlich nicht von der Seite seines Meister wich, war der Vogt ein Arboraner. Dies war insofern überraschend, da Eventum eigentlich eine Stadt war, die auf die Bedürfnisse speziell von Menschen ausgelegt war. Arboraner wurden kaum größer als ein Meter und zehn. Für sie wären die Räume und das Mobiliar viel zu groß und damit völlig ungeeignet. Arboraner lebten im Wald und waren viel enger mit der Natur verbunden als die Menschen. Aber Antilius und Gilbert hatten bisher nur Menschen in der Stadt gesehen.
Der Grund, warum ein Arboraner die Geschicke der Menschenstadt Eventum führte, lag darin begründet, dass die Inselwelt Arbrit, auf der Eventum lag, unter der Verwaltung des Königreichs von Arbrit stand, und der König war ein Arboraner. Damals vor tausend Jahren - also in der Vergangenheit, in der sich Antilius und Gilbert jetzt befanden - lag die Hauptstadt der Arboraner im Osten dieser Inselwelt. Ventum war der Name dieser Stadt, und die wurde hauptsächlich von Arboranern bewohnt. Eventum im Westen und Ventum im Osten konnten nicht verschiedener sein. Während Eventum ein Zentrum der Wissenschaft und Architektur war, stellte Ventum die Verbundenheit mit der Natur in den Vordergrund. Es war eine Stadt, mitten im Wald, die man von außen vermutlich gar nicht auf den ersten Blick als solche erkannt hätte.
Obwohl die Inselwelt Arbrit (damals Eventumien genannt) das Königreich der Arboraner war, lebten - wie überall auf Thalantia damals Menschen und Arboraner gleichberechtigt. Eventum war aber vornehmlich durch Menschen bewohnt.
Antilius merkte, wie ihm allmählich alle diese Fakten wieder einfielen. Mehr und mehr spürte er, dass er in diese Zeit gehörte. Alles fühlte sich vertraut an.
Der Vogt, der Tirl ein wenig ähnelte, begrüßte die Gruppe von Menschen.
»Sagt dem König Bescheid! Sie sind da«, sprach der Vogt zu einem Bediensteten.
Zuerst glaubte Antilius, dass sie gleich dem König der Arboraner gegenüberstehen würden, aber er irrte sich. Der König war ein Mensch, und es war nicht der König von Arbrit, sondern der von Bétha, der Vierten Inselwelt. Artorius war sein Name. Er war ein dünner, alter Mann mit schütterem Haar und traurigem Blick. Da fiel Antilius wieder ein, dass dem Arboraner-König irgendetwas im Verlaufe des Krieges zugestoßen war. Das Königreich Eventumien existierte zu dieser Zeit praktisch gar nicht mehr.
Der König trat ein und alle nahmen Haltung an. Sogar Gilbert, der so beeindruckt war, dass er ganz vergessen hatte, von den anderen nicht gesehen werden zu können. Der König begrüßte jeden einzeln mit einem Händeschütteln. Dann setzte er zur Rede an:
»Ich weiß, dass jeder von Ihnen nichts anderes hören möchte als unsere Pläne für die kommenden Tage, um den Krieg zu unseren Gunsten zu wenden. Deshalb werde ich gleich zur Sache kommen.
Folgen Sie mir!«
König Artorius führte die Gruppe in einen Nebenraum. Darin befand sich ein Tisch mit einer großen Karte, die darauf ausgebreitet war.
»Na endlich ein paar Antworten!«, sagte Gilbert, als er sah, dass es sich um eine Übersichtskarte von ganz Thalantia zur Zeit der Könige handelte.
Alle versammelten sich um den Tisch, und Antilius und Gilbert studierten die Karte genau. Darauf war im Zentrum die Inselwelt Truchten zu sehen. Truchten war die Heimat des Königreichs Largosien. Es war das Königreich der Largonen. Dort, wie für alle anderen vier Königreiche auf Thalantia auch, galt der Grundsatz, dass jede Rasse in jedem Königreich willkommen war, sofern die dortigen Gesetzte eingehalten wurden.
Auf Bétha, der Inselwelt westlich von Truchten, herrschte König Artorius im Königreich Arcadien. Panthea, weit nördlich von Truchten, beherbergte das Königreich Terzien. Es war das Reich der Sortaner.
Gilbert stupste Antilius an und zeigte auf die Stelle auf der Karte. »Das würde Haif sicher gefallen, wenn er wüsste, dass ein Sortaner einmal König einer ganzen Inselwelt war.«
Fahros, die kleine Inselwelt nordwestlich von Truchten, und zwischen Bétha und Panthea gelegen, stand unter gemeinsamer Verwaltung der drei angrenzenden Königreiche.
Arbrit, östlich von Truchten, also die Inselwelt, auf der sich jetzt Antilius und Gilbert befanden, gehörte dem Arboraner-Königreich Eventumien. Das fünfte und letzte Königreich Xanthien befand sich auf der Inselwelt Brigg, nordöstlich von Truchten und nördlich von Arbrit. Königin war hier eine Releganerin. Releganer waren entfernte Verwandte von Vögeln und hatten einen gefiederten Körper, vom Scheitel bis zur Sohle, waren aber flugunfähig. Releganer waren zu jener Zeit noch sehr zahlreich gewesen. Der Krieg aber hatte ihr Volk fast ausgerottet, sodass man einen Releganer nur noch sehr selten in der Gegenwart zu Gesicht bekam. Die siebte Inselwelt Finfin im Süden von Truchten unterstand keinem Königreich und war zu der damaligen Zeit unabhängig.
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