Gilbert sah hektisch um sich und konnte es nicht fassen. »Sieh doch nur!«, sagte er zu seinem Meister. »Ich bin wirklich hier!«
Antilius reichte ihm die Hand, und Gilbert schlug ein. Beide lachten und freuten sich.
Die Umgebung hatte sich indes vervollständigt. Sie standen auf einer Parkanlage mit grünem Gras und großen Eichen, die im vollen Saft standen. Vogelgezwitscher erklang von überall her. Die Bäume warfen kurze Schatten. Es war Sommer. Auf der gegenüberliegenden Seite des Parks sahen sie mehrere große Gebäude, die aus weißem Stein gebaut waren. Zwei Türme mit Rundbogenzinnen an den Spitzen ragten dahinter auf, die im hellen Sonnenlicht ebenfalls weiß funkelten.
In der Mitte des Parks zwischen all den Bäumen und Maulwurfshügeln, da saß eine Gruppe Menschen bei einem Picknick. Sie lachten viel und unterhielten sich.
Gilbert war völlig perplex: »Wie ist das nur möglich? Sind wir wirklich hier?«
»Ja, wir sind hier. Auch wenn unsere Körper noch auf dem Kayen sind.« Antilius ging in die Hocke, riss ein Büschel Gras aus und hielt es sich an die Nase. »Frag mich nicht, wie die Siobsistin das gemacht hat, aber es fühlt sich alles real an.«
»Wo sind wir hier?«
»Ich bin mir nicht sicher. Aber diese Türme dort hinten mit diesen charakteristischen Zinnen, die habe ich schon einmal gesehen.«
»Und wo?«
»In der versunkenen Stadt auf Arbrit. Wenn mich nicht alles täuscht, sind wir in Eventum, bevor es in den Fluten versank.«
»Dann sind wir zumindest in der richtigen Zeit, denn Eventum versank zum Ende des Krieges.«
»Hoffen wir es«, sagte Antilius und sah neugierig zu der Gruppe beim Picknick hinüber.
»Wer sind diese Leute? Erkennst du jemanden?«
Antilius wollte mit 'Nein' antworten, aber je länger er zu den Menschen hinübersah, desto vertrauter wurden ihm einige ihrer Gesichter. Er konnte sie aber niemandem zuordnen, weil er sich immer noch nicht erinnern konnte.
»Was machen wir jetzt? Wollen wir einfach mal zu ihnen gehen?«
Antilius zuckte die Achseln. »Warum nicht? Was soll schon passieren? Die Siobsistin hatte gesagt, nichts, von dem, was wir tun, wird die Zukunft beeinflussen.«
Sie näherten sich also der heiteren Gruppe. Kaum hatten sie ein paar Schritte gemacht, kam auch schon jemand auf Antilius zugestürzt. Es war ein Mann, hoch gewachsen, mit breiten Schultern. Er war älter als Antilius jetzt. Er wirkte wie jemand, der als Anführer geboren zu sein schien, und dennoch hatte er etwas Gütiges in seinem Blick.
»Was ist los mit dir?«, rief er dem verdutzten Antilius zu. »Das ist unsere Abschiedsfeier, und du machst dich einfach aus dem Staub?«
Der Mann fing ihn ab, legte gut gelaunt seinen Arm um ihn und dirigierte ihn zum Picknickplatz. Gilbert ignorierte er.
Bei den anderen angekommen, sahen die kurz zu ihnen und lachten.
»Du hast ja noch gar nichts gegessen!«, sagte eine Frau zu Antilius.
»Ich, äh, ich habe keinen Hunger.«
»Also wirklich! Ich kann das nicht mehr hören!«, sagte der Mann mit den breiten Schultern bestimmt, aber nicht bereit, sich seine gute Laune verderben zu lassen. »' Ich möchte nichts essen. Ich mache mir Sorgen. Ich will allein sein.'
Das will ich nicht hören! Heute sind wir hier, um zu feiern! Sorgen kannst du dir auch morgen noch machen. Also, setz dich jetzt hin und iss! Sonst kriegst du es mit meiner Frau zu tun«, sagte der Mann mit einem Augenzwinkern.
»Es ist besser, du hörst auf Terius. Ich kann ziemlich unangenehm werden, wenn man mein Essen verschmäht«, sagte die Frau, die zu Terius gehörte. Alle lachten. Antilius wurde von jemanden am Arm gezogen, als unmissverständliche Aufforderung, endlich neben den anderen Platz zu nehmen.
Gilbert stand abseits und wunderte sich, warum ihn niemand beachtete. Nicht weniger verwundert fragte er sich, wer dieser Mann mit den breiten Schultern war. Der Mann, den seine Frau Terius nannte.
Zu seiner Überraschung ließ die Antwort auf diese Frage nicht lange auf sich warten.
Antilius hatte immer noch Mühe, sich in die neue Situation hineinzufinden und kaute unsicher an einem Stück Brot. Terius lachte, schlang erneut seinen Arm um ihn und drückte ihn ganz fest an sich. »Na also«, sagte er. »Mein Bruderherz weiß also doch noch, was sich gehört.«
Antilius hätte sich vor Schreck beinahe an seinem Stück Brot verschluckt. Ja, er erinnerte sich wieder. Terius war sein älterer Bruder. Ihm war, als würde eine Mauer in seinem Kopf einstürzen und ein paar alte Erinnerungen freilegen. Er erinnerte sich. Endlich!
Terius war verheiratet, und seine Frau hieß Sivela. Auch die anderen Gesichter kannte er. Er konnte ihnen noch keine Namen zuordnen, aber er wusste, dass sie Freunde waren und keine Verwandten.
Gilbert trat an die Gruppe heran und beugte sich zu Antilius vor. Immer noch schenkte ihm niemand Beachtung.
»Was geht hier vor?«
Antilius drehte sich zu ihm um und sah, dass sich eine andere Frau auf seinen Freund zubewegte. Sie schien Gilbert aber nicht wahrzunehmen und würde ihn umstoßen, wenn sie ihre Richtung nicht änderte. Er wollte Gilbert warnen, doch es war schon zu spät. Die Frau ging - ohne von Gilbert Notiz zu nehmen - einfach durch ihn hindurch.
»Huch!«, schrie Gilbert.
Die Frau war einfach durch ihn hindurchgefahren, als wäre er ein Geist.
»Was war das denn?« Gilbert sah der Frau hinterher, die nichts mitbekommen hatte.
»Sie können dich nicht wahrnehmen«, erklärte Antilius. »Weil das meine Vergangenheit ist und nicht deine. Niemand außer mir kann dich sehen. In dieser Realität bist du gewissermaßen ein neutraler Beobachter.«
Gilbert atmete einmal tief durch. »Von mir aus. Ist vielleicht auch besser so. Wie hättest du ihnen auch erklären sollen, wer ich bin? Aber nochmal möchte ich das nicht erleben. Als die Frau durch mich hindurchging, das war einfach nur unheimlich. Als würde man über sein eigenes Grab laufen. Anders kann ich es nicht beschreiben.«
Gilbert schaute zu Terius hinüber. »Das ist also dein Bruder. Erinnerst du dich an ihn?«
»Ja. Aber ich weiß immer noch nicht, was an diesem Tag hier auf Eventum geschehen wird. Es ist ein ganz besonderer Tag, das weiß ich genau.«
Sie verfolgten die Gespräche der Männer und Frauen am Picknickplatz, um mehr herauszufinden, aber es waren nur belanglose Unterhaltungen. In ihren Gesichtern konnte man aber erkennen, dass sich alle ganz bewusst bemühten, über das Thema Krieg nicht zu sprechen.
Da fiel Gilbert noch etwas auf, das ihm Kopfzerbrechen bereitete. »Sag mal Antilius, warum sprechen alle unsere Sprache?«
»Was meinst du?«
»Na, die Präfektin hat doch erklärt, dass unsere Vorfahren nach dem Krieg die alte Sprache nach und nach aufgegeben und sie irgendwann nicht mehr gesprochen haben. Die Leute hier müssten sich demnach noch in dieser alten Sprache unterhalten. Sie sprechen aber unsere Sprache, die erst spätere Generationen gelernt haben. Das ist doch unmöglich.«
»Vergiss nicht, dass dies hier eine andere Realität ist. Das hier ist eine Vergangenheit, die von der Siobsistin geschaffen wurde. Ich denke, die Leute sprechen sehr wohl ihre alte und gewohnte Sprache, aber für uns ist es unsere Sprache. Die Siobsistin wird dafür gesorgt haben, genauso wie sie dafür gesorgt hat, dass du für die anderen unsichtbar bist, und ich mich mit dir ungestört unterhalten kann, ohne dass jemand etwas merkt. Es würde uns ja auch nichts bringen, in die Vergangenheit zu reisen und kein Wort zu verstehen, das gesprochen wird.«
»Stimmt. Ganz schön raffiniert. Ich bin gespannt, wie es weitergeht. Es kommt einem wirklich so vor, als wäre es real.«
Das Picknick neigte sich bereits dem Ende zu. Terius wies immer wieder darauf hin, dass sie sich nicht verspäten dürften. Es begann ein langer Abschied mit vielen Umarmungen und auch einigen Tränen. Offenbar mussten Antilius, sein Bruder und acht andere (drei Frauen und fünf Männer) sich von Verwandten, Freunden und Bekannten trennen. Bei genauerer Betrachtung ihrer Gesichter erinnerte sich Antilius, wer diese Personen waren. Es waren die Adepten von Terius. Doch worin hatte er sie unterrichtet? Darauf wusste er noch keine Antwort.
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