Kaum zu glauben, aber wie aus dem Nichts tauchte plötzlich meine Schule vor uns auf. Ich winkte kurz einem mir über seine Schulter zuzwinkernden Karl hinterher und schaute mich um – uff, uns hatte niemand aus der Klasse gesehen.
Ich freute mich geradezu auf meine letzte Schulwoche in der siebten Klasse. Während ich Herrn Meißner wie so häufig zu spät aus seinem alten Volvo krabbeln sah, stopfte ich mir die Kopfhörer meines MP3-Players in die Ohren. Nochmal Schwein gehabt! Es versprach ein guter Tag zu werden. Auf dem Weg durch die dunklen, nach zu vielen Schülern mit schmutzigen Schuhen riechenden Gänge lächelte ich. Meine Gedanken kreisten um den kleinen gelben Zettel, den Lu mir vor dem Wochenende zugesteckt hatte. So ´ne Art Liebesbrief eher. Sie habe mich beobachtet und fände mich süß. Logisch, dass ich die Zeilen auch den Jungs gezeigt hatte. Sollte sich inzwischen ordentlich herumgesprochen haben, die Geschichte. Ich war sehr gespannt auf Lu´s Gesicht und die geballte Rache der 7b-Mädchenfront. Klar, ich mochte Lu. Ganz schön doll sogar. Aber das muss unter uns bleiben, verstanden?
Nach dem allgemeinen Abklatschen mit den Jungs und ein paar Funken versprühenden Blicken der Mädchen kehrte wieder Ruhe in der 7b ein. Lu erschien nicht zum Unterricht, sie hatte sich krank gemeldet. Das verabreichte mir ein leicht mulmiges Bauchgefühl, welches sich jedoch mithilfe von ein paar Schokoriegeln vorerst beheben ließ. Später sah ich aus dem Fenster und gleichzeitig die Schlagzeile
„ Aus Liebeskummer: von Mati verschmähte Gymnasiastin stürzt sich in den Abgrund!“
auf meinem internen Monitor.
Menno, Gewissensbissen brauchte ich jetzt wirklich nicht. Mir fielen zwei Möglichkeiten ein, mich von Lu´s Schicksal abzulenken: dem Unterricht folgen und mich sogar daran beteiligen oder an etwas Aufregendes wie die bevorstehende Brasilienreise mit meinem Vater denken. Ich entschied mich dafür, bereits vor dem eigentlichen Termin die Tropfsteinhöhlen Zentralbrasiliens zu bereisen. Ich erinnerte mich an die Dias, die Karl auf seinen vorangegangenen Reisen geschossen hatte. Etwas ähnlich Schönes hatte ich mit meinen eigenen Augen bisher nicht zu sehen bekommen. Wieder lächelte ich. Ich freute mich wie ein kleines Kind auf das größte Abenteuer meines noch jungen aber umso abenteuergierigeren Lebens. An Lu dachte ich vorerst nicht mehr.
Am Abend war Karl ungewöhnlich aufgeregt, Während er meine Lieblings-Spaghetti zubereitete, berichtete er mir vom aktuellen Stand seiner Reisevorbereitungen. Er hatte seinen Vortrag für die Tagung in São Paulo beinahe fertig vorbereitet. Seine Kollegen an der Uni dort hatten ihm eine Liste von Ausrüstungsgegenständen gemailt, die wir mitbringen sollten. Darunter befanden sich so abenteuerliche Dinge wie Karbidlampen, Strickleitern und Höhlenhelme. Ganz unten auf der Liste entdeckte ich das Wort „Notproviant“!
Karls Mund formte derweil Worte, deren Bedeutung ich nicht verstand. Er sprach über seinen Vortrag, den zu halten ihn seine Kollegen an der Uni in São Paulo eingeladen hatten. Mein Vater war, so viel hatte ich inzwischen begriffen, eine Koryphäe unter den Speläologen. Was das bedeutet? Karl war ein international bekannter und angesehener Spezialist auf dem Gebiet der Höhlenforschung. Besonders so krasse Höhlentiere wie Grottenolme, blinde rosa Fische, weiße Krebse und Geißelspinnen hatten es ihm angetan. Gerade redete er mal wieder sein Fachchinesisch. Doch auch wenn er in meiner trivialen Alltagssprache gesprochen hätte, wären Karls Worte belanglos wie Seifenblasen an meiner Tagtraumkapsel zerplatzt.
Ich steckte bis zur Hüfte in einer Felsspalte. Die gelb-orange, aus Karbidfelsbrocken und Wasser gezeugte Flamme meines Helmes zeichnete qualmend sich mit jeder meiner Bewegungen verändernde Schatten an feucht glitzernde Höhlenfelswände. Diese Technik faszinierte mich. Man füllte einige nach Knoblauch riechende Felsstücke in einen Plastikbehälter, gab etwas Wasser darauf und schraubte alles mit einem Deckel zu. Ein Schlauch verband die am Gürtel zu tragende, etwa thermoskannengroße Gaskapsel mit einer Art Feuerzeug an der Stirnseite des Höhlenhelmes. Ein Metallspiegel reflektierte das Licht der orangefarbenen Flamme zusätzlich in Blickrichtung des Höhlenforschers. Die chemische Reaktion der Kalziumkarbidbrocken mit dem Wasser erzeugte neben dem brennbaren Gas Acetylen auch ordentlich Wärme. Sollte es einem dort unten in den Höhlen einmal zu kalt werden, konnte man sich an der Plastikflasche die Hände oder den Hintern wärmen.
Das alles änderte nichts an meiner misslichen Lage. Ich steckte fest und je wütender ich mich in meinem steinernen Gefängnis wand, umso kräftiger spürte ich die kalten Felsklauen sich in meinen Rücken und die Hüften krallen. Hätte ich also doch auf die Worte meines Vaters hören sollen? Hätte ich auf dieses kleine Extra-Abenteuer verzichten und mit den anderen Exkursionsteilnehmern den vermeintlich sicheren Weg den Höhlenbach entlang gehen sollen? Aber warum hatten sie mich überhaupt allein gehenlassen? Das sah meinem Vater so gar nicht ähnlich. War dies etwa eine Prüfung?
Ich verhielt mich nun völlig ruhig, um zu lauschen, ob nicht bereits Hilfe nahte. Doch alles was ich hörte, war das feine Rauschen des an meiner Stirn verbrennenden Acetylens. Ein paar Meter vor mir verbreiterte sich der Tunnel. Schatten tanzten an den Höhlenwänden. Sie nahmen Gestalt an. Sollten die brasilianischen Führer mich gefunden haben? Ich hörte ein feines Wispern. Zunächst war es nur eine einzelne Stimme, dann folgten weitere. Das Geräusch ähnelte dem fernen Zirpen sommerabendlicher Feldgrillen. Die Schatten huschten die Wände entlang. Sie waren viel zu klein und zu flink, um von meinen Kameraden stammen zu können. Außerdem waren ihre Arme zu lang, die Beine zu kurz. Nein, das waren ganz sicher keine menschlichen Schatten.
Scheiße, was sollte ich jetzt nur tun? Angst kroch durch meine Gedärme. Hektisch durchwühlte ich mein Hirn auf der Suche nach Regeln für den Notfall. Was hatte Karl noch gleich über Panik gesagt? Der alte Mann hatte mir schon so vieles mit auf den Weg gegeben. „Mati, es ist wichtig, in die Schule zu gehen, du lernst dort fürs Leben.“ Nein, Blödsinn, das war es nicht. „Messer rechts, Gabel links, wann lernst du das endlich?“ Auch nicht, er hatte mir fünf Regeln genannt. Wie lautete gleich die Wichtigste von allen? Plötzlich erschien die Situation deutlich vor mir. Karl hatte mich am Abend vor unserer Abreise auf einmal ganz ernst angeschaut. Er hatte seine schmutzige Brille abgenommen, mir ungewohnt direkt und geistesanwesend in die Augen gesehen und gesagt: „Mati, was immer dort unten in den Höhlen auch geschehen, wer oder was auch immer dir begegnen mag, du darfst auf gar keinen Fall in Panik geraten!“
„Mati! Mati, träumst du schon wieder? Hörst du mir jetzt gar nicht mehr zu? Ich möchte, dass du den Löffel in die linke und die Gabel in die rechte Hand nimmst. Das macht man so, wenn man Spaghetti isst. Ist das denn wirklich so schwer zu begreifen?“ Die Pasta mit den in Olivenöl gebratenen, roten Chilis und Knoblauch schmeckten köstlich. Mein Vater kochte zu meinem Glück nicht nur gut, sondern auch gern. Merkwürdig, dass ich mir die Sache mit dem Besteck nicht merken konnte. Ich tat das nicht, um ihn zu ärgern. Echt. Es fiel mir einfach nicht auf, wenn ich es falsch machte.
Meine letzten Schultage verflogen fast vollkommen ereignislos. Lu tauchte nicht wieder auf. Beinahe hätte ich ihren Liebesbrief vergessen, wäre da nicht ihre beste Freundin Lynn gewesen. Die fragte mich am Donnerstag, ob ich eigentlich noch ruhig schlafen könne. Ich schenkte ihr mein kältestes Grinsen, obwohl mir eigentlich nicht danach zumute war. Ich mochte Lu. Ehrlich. Das einzige Problem an ihr war, dass es sich bei ihr - inzwischen unverkennbar - um ein Mädchen handelte. Offizielle Freundschaften mit Mädchen kamen in unserer Klasse noch nicht in Frage. Egal, sie würde die Schmach mit dem Zettel schon überleben und bestimmt fanden wir bald eine Gelegenheit, uns heimlich zu treffen. Falls sie das überhaupt noch wollte.
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