1 ...8 9 10 12 13 14 ...20 Elaine nickte: „Dann bis morgen.“
Malvina winkte ihm zu und dann war Kryss wie vom Erdboden verschluckt.
„Wie macht er das?“, fragte Elaine, als der Kutscher ihnen beim Einsteigen half.
Malvina lächelte: „Er hat es zwar nicht zum Profi geschafft, aber nicht, weil er unfähig ist, sondern weil er eine wichtigere Aufgabe gefunden hat.“ Die Kutsche setzte sich in Bewegung, zurück zum Grafen, wie gewünscht.
„Eine wichtigere Aufgabe?“
Malvina nickte und jetzt bewegten sich wiederum nur ihre Lippen, während Elaine zudem das Gefühl hatte, dass ein Schleier sich über die Fenster gelegt hatte, so dass niemand mehr hinein blicken konnte, selbst wenn er wollte: „Ich wusste es nicht, bis vor kurzem, um es mal so zu sagen. Ich kannte Kryss nicht einmal, bevor ich... du weißt schon. Corry hat nur hin und wieder einen Bekannten erwähnt, aber weiter nichts. Jedenfalls, Kryss ist eine Art Wächter.“
„Ein Wächter?“, fragte Elaine ebenso lautlos. Sie hatte schon befürchtet, sie hätte das Lippenlesen verlernt, als sie nach Hause zurückgekehrt war, so wie ihre Erinnerungen zu verblassen anfingen, aber zum Glück klappte es doch.
„Ein Wächter, so ist es. Es ist eine lange Geschichte. Die Katakomben sind eine Grenzzone, die Grenze zwischen der Oberfläche und der Tiefe. Du weißt doch noch, was die Tiefe ist, oder Ellie?“
Elaine erinnerte sich tatsächlich daran, was ihre Freunde ihr darüber erzählt hatten. Die Tiefe war etwas, wo die wirklichen Alpträume wahr wurden, im Vergleich dazu war das Schlimmste, das sie in der Hauptstadt je erlebt hatte, ein Spaziergang. „Na ja, ich weiß nicht viel darüber, aber es ist wohl nichts Schönes.“
Malvina nickte: „Das ist noch maßlos untertrieben, aber es stimmt soweit. Nun, Kryss bewacht eben diese Grenze so gut er kann. Ich fürchte nur, er steht da einsam auf verlorenem Posten.“
Elaine runzelte die Stirn: „Darum meinte er, dass es ihm nicht besonders gut geht?“
Malvina nickte wiederum: „Auch deswegen, ja. Nicht zuletzt dank Cerebro und mir“, sie seufzte.
„Ich wünschte, ich könnte das alles ungeschehen machen, aber selbst ein Träumer kann den Lauf der Zeit nicht umkehren. Wir können nur versuchen, die Zukunft zu beeinflussen und die Gegenwart zu formen.“
Elaine sah Malvina ernst an: „Warum kannst du das eigentlich, wenn du doch von hier bist?“
Malvina schloss für einen Augenblick die Augen, bevor sie antwortete: „Weil auch ich etwas besonderes bin, scheint es. Ich habe eine Theorie, willst du sie hören?“ Elaine nickte.
„Also, Corry und ich, wir sind Schwestern. Wir haben dasselbe Blut, wenn man es so sehen will. Aber wir sind keine Zwillinge, darum gleichen wir uns nicht. Es ist nur die Kraft, die Macht, die uns auszeichnet. Früher haben Leute wie wir diese Welt beherrscht und beschützt. Sehr viel früher.“ War das der Adel, von dem von Karpat gesprochen hatte? Es sah so aus.
„Jedenfalls, ich schätze, unsere Fähigkeiten sind eben in diese beiden Richtungen ausgeprägt. Corry, sie ist wie einer dieser Wächter oder Wahren Ritter oder Profis oder Agenten oder wie man sie auch immer nennen mag. Sie kann sich so ziemlich jeder Situation anpassen, sie kommt mit vielem zurecht, sie hat vieles drauf. Ich dagegen, ich bin wohl so ähnlich wie der Prinz. Ich beherrsche diese Welt sozusagen.“
Sie lächelte traurig: „Ist wohl mit einer der Gründe, warum der Prinz mich zu seiner Braut machen möchte. Er kann erst König werden, wenn er eine Königin gefunden hat. Und es hat schon lange niemanden mehr gegeben, wie mich, hat man mir gesagt.“ Sie schmunzelte jetzt und ihre Augen blitzten kurz gelb auf, so kurz, dass Elaine es nicht bemerkte.
Elaine schüttelte den Kopf: „Und dennoch bin ich dir als Träumer überlegen?“
Malvina nickte: „Ja. Ich kann über die Welt herrschen, aber du bestimmst ihre Essenz. Das ist doch ein Unterschied, findest du nicht?“
Sie sah zum Fenster und flüsterte jetzt und in der völligen Stille der abgeschirmten Kutsche klangen diese gehauchten Worte laut wie ein Schrei: „Und wenn ich dich damals hätte überzeugen können, dass ich gewonnen hatte, dann hättest du das durch deinen Glauben wahr gemacht. Verstehst du, warum beide Seiten dich so dringend gebraucht haben?“
Elaine war wie versteinert. Erst jetzt erfuhr sie, wie haarscharf sie an ihrem Untergang vorbei geschlittert war. Sie war so betroffen, dass sie nicht auf die schwache Spiegelung von Malvinas Gesicht achtete, in der das Gelb der Augen glühte.
Doch als Malvina wieder zu Elaine blickte, waren ihre Augen wieder tief blau. Sie lächelte: „Aber es ist noch einmal gut gegangen. Wie konnte jemand auch glauben, meine Familie schlagen zu können? Dazu braucht es doch etwas mehr, denke ich.“
Elaine lächelte auch: „Du nennst sie alle deine Familie?“
Malvina nickte: „Aber ja doch. Corry ist meine Schwester, das ist klar. Irony ist wie ein großer Bruder. Na ja, das stimmt nicht ganz. Ich war wohl etwas in ihn verschossen gewesen, aber nicht ernsthaft. Und dennoch hat es gereicht, damit ich Corry hassen lernen konnte. Leo und Boo – sie sind einfach mehr als nur Freunde für uns. Ich weiß nicht, wie Cerebro es schaffen konnte, dass ich mich gegen sie gewandt habe.“
Sie schloss die Augen und wieder bewegten sich nur ihre Lippen: „Ich habe solche Angst um sie gehabt, dass ich mich ergeben habe, dass ich mich für sie geopfert habe. Aber gerade das hat mich erst zu dem Ungeheuer gemacht, das du erlebt hast. Ich hätte darauf vertrauen sollen, dass sie es schaffen. Aber ich habe ihm geglaubt, ich habe geglaubt, dass meine Gegenwehr ihr Todesurteil wäre. Ich habe den Fehler gemacht, den du vermieden hast.“
Elaine wollte sie trösten, aber sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
Malvina öffnete wieder die Augen und lächelte: „Es tut mir leid. Ich – ich weiß nur nicht, ob ich mit jemand anderes darüber sprechen könnte. Ich meine, meine Familie – sie sind nicht mehr sie selbst und ich habe Angst, sie würden mich in ihrem Zustand nicht verstehen.“
Elaine lächelte: „Ich denke, das kriegen wir schon noch hin. Ich meine, hey, wenn du sozusagen eine Herrscherin bist und ich eine Träumerin, kann da noch etwas schief gehen?“
Malvina kicherte: „Sicher nicht. Ich meine, fast sicher.“
Die Kutsche hielt wieder, die Tür öffnete sich und die seltsame Abschirmung fiel in sich zusammen, als sie das Haus des Grafen sahen. Erneut war der Kutscher ihnen behilflich und dann ging es wieder zurück durch die nun eisige Kälte hinein. Elaine schüttelte sich, als die Türen sich wieder hinter ihnen schlossen: „Das ist ja geradezu arktisch kalt hier!“
Sie wusste natürlich nicht, wie kalt arktisch kalt eigentlich war, aber sie dachte sich, dass dieser Frost dem zumindest nahe kommen musste.
Der Graf kam gerade zu ihnen und grinste: „Nun, so sind die Winter hier meist, Ellie. Es ist sozusagen die Vorstellung, die man vom Winter hat. Er ist bitterkalt. Wo habt ihr eigentlich Kryss gelassen?“
Elaine rollte die Augen, als Alexey zu ihr ging und ihr mal wieder einen seiner unüblich aufdringlichen Handküsse gab, der ihre Haut durch jede Stofflage zu berühren schien und ihr überall am Körper eine wohlige Gänsehaut bescherte: „Kryss dachte sich, dass er sich anderweitig besser nützlich machen kann, als am Hof.“
Der Graf zog eine Augenbraue hoch: „Am Hof? Seid Ihr mit Leo etwa schon fertig?“
Sie schmunzelte: „So könnte man es sagen. Die Frage ist jetzt nur noch – wo finden wir um diese Uhrzeit Boo?“ Bei diesen Worten sah sie automatisch auf die nächste sichtbare Uhr und stellte fest, dass der Abend in etwa so fortgeschritten war, wie sie erwartet hatte.
Der Graf grinste: „Nun, nachdem die Nacht noch jung ist, wird er sich wohl erst noch auf einer Feier aufwärmen, bevor es richtig los geht.“
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