Selbst im Tod muss scheinbar der Nachwelt belegt werden, mit welcher Kapitalausstattung der Verstorbene seine Nachkommen versorgt hat. Dabei reicht wohl ein polierter Marmorblock nicht immer. Kleine Mausoleen, mit protzigen Säulen und kupfernen Dächern, mit eigener Wegeführung und schweren schwarzen Ankerketten, die als Zäunung satt an den gusseisernen Säulen hängen, sollen dem Besucher sagen: hier ruht jemand, der etwas ganz Besonderes war. Haltet Abstand, bestaunt sein Lebenswerk, habt Ehrfurcht. So beerdigt zu sein, ist eigentlich nur Königen vorbehalten. Sie sehen schwarze Obelisken, auf goldgefassten Fundamenten, die Spitze in den Himmel ragend, hoch hinaus, schier bis zu den Wolken reichend, einen langen Schatten auf andere Gräber werfend, so, als wollte der hier beerdigte Mensch auch noch nach seinem Ableben das warme Licht für sich allein reservieren.
Sie gehen auch an dem Feld der anonym Bestatteten vorbei. Eine große Wiese, mit breiten Sandwegen umrahmt, mit Holzbänken am Rande und einer angenehmen Stille. Wer hier liegt, wollte kein Aufheben um sich, keine Tränen vor poliertem Granit, wollte eingelassen werden, in den Schoß der Erde und sich den Ort nur mit anderen Seelen teilen, die wie er, ungestörten, schnörkellosen Frieden suchen.
Marta und Julius erreichen das weiße Gatter am Friedhofseingang. Erst jetzt möchten Sie wieder sprechen.
„Marta“, sagt Julius. „Ich weiß, dass er Dir mehr bedeutet hat …“
„Und ich weiß, dass Du es schon lange weißt.“ beruhigte ihn Marta.
„Du warst für mich immer meine Mutter. Dafür möchte ich Dir heute danken.“ Julius hakt Marta unter und drückt ihren Arm.
Marta möchte vom Thema ablenken: „Was wirst Du jetzt tun?“ fragt sie ihren jungen Begleiter. „Du musst jetzt an Dich denken, Dir schnell wieder einen Job suchen und alles, was zu regeln ist, hinter Dich bringen.“
„Leichter gesagt, als getan.“ seufzt Julius nachdenklich. „Wenn es der Job allein wäre. Aber die Schulden, die jetzt da sind, auch noch die Kosten für die Bestattung. Auf die Schnelle ist all das nicht einmal einfach so zu regeln.“ Und nach einer kleinen Pause fügt er hinzu: „Ich bin völlig ratlos und ich habe Angst, Marta.“
„Ich habe leider keine Mittel, mit denen ich Dir helfen könnte.“ gibt Marta schweren Herzens zu. „Die letzten Piselotten auf meinem Sparbuch sind höchstens ein Tropfen auf dem heißen Stein. Aber ich werde sie Dir gerne geben. Vielleicht helfen diese Dir wenigstens, die ersten Hürden zu nehmen“
Julius schüttelt vehement den Kopf. „Das wirst Du schön bleiben lassen. Deinen Notgroschen werde ich ganz bestimmt nicht an mich reißen und den Bankfritzen in den Rachen schieben.“ Er ist ganz bestimmt in seiner Antwort. „Nein, eher überfalle ich einen Geldtransporter …“
„Gott bewahre!“ ruft Marta entsetzt. „Dich auch noch ins Unglück stürzen … nein! Und wenn ich Dich im Klo einsperren sollte, aber das würde ich schon zu verhindern wissen.“ Die alte Dame lässt keinen Zweifel aufkommen, dass sie es ernst meint. Aber sie lächelt bereits wieder.
„Ich gebe mich geschlagen“, sagt Julius schnell. „Dem Klo ziehe ich dann doch ein gutes Essen in Freiheit vor. Komm, ich lade Dich zu einer Portion Spaghetti di Mare bei Vito ein.“
„Machen wir, aber nur unter einer Bedingung“, antwortet Marta. „Ich zahle!“
Während sie zum Restaurant fahren, ist Marta wieder ganz still und nachdenklich. Sie mag es zwar sehr, ruhig im Auto zu sitzen und die schöne Stadt an sich vorbeiziehen zu lassen, doch ihre Gedanken lassen wenig Freude aufkommen. Sie schaut auf die großen alten Häuser aus den Zwanzigerjahren, die gepflegten Vorgärten und die großen Kastanien, die in dieser Gegend häufig rote Blüten tragen. Gerade hier, zwischen Altona, Ottensen und den sich gen Westen erstreckenden Elbvororten, ist der Unterschied zwischen den Armen und Reichen besonders deutlich erkennbar. Es ist fast wie eine Reise in eine andere Welt. Unerreichbar und mit kühler Schönheit.
An vielen Stellen ist das Bild Altonas geprägt von Mietskasernen, klapprigen Wohnblöcken und ärmlichen Straßen, die sich nach und nach zu kleinen Ghettos wandeln. Hier lebt der Teil der Bevölkerung, der immer ärmer wird. Die geringen Mieten saugen förmlich die Armut an. Hier leben kleine Rentner, Sozialhilfeempfänger und ausländische Familien. Die Straßenbilder sind geprägt von langen Mänteln, verschiedenen Sprachen und den kopftuchtragenden Frauen.
Wo sie jetzt aber fahren, nur einen Katzensprung von all dem entfernt, zwischen Elbstrand und der Osdorfer Landstraße, beginnt das Revier der Reichen. Villen, inmitten großer Gärten, mit alten Bäumen und hohen Zäunen, reihen sich schier ununterbrochen aneinander. Kaffeemühlen, so genannt, weil sie an die Form alter Kaffeemühlen erinnern, rote, meist quadratisch gebaute Backsteinhäuser mit weißen Fenstern und ausladenden Eingangstüren, stehen neben herrlichen mehrstöckigen Jugendstilvillen, stuckverziert, in strahlendem Weiß oder zartem Gelb, mit grünen Kupfertürmchen und breiten, geschwungenen Treppen hinauf zu ihren doppelflügeligen Eingangsportalen.
Sie fahren durch eine Kastanienallee, an hohen weißen Mauern vorbei, hinter denen ausladende Appartementblöcke liegen. Weiße Paläste mit Penthäusern und gläsernen Terrassen. Sie fahren über kopfsteingepflasterte, schmale Straßen, vorbei am Derbyplatz, dann entlang des Jenischparks mit seinem kleinen Schlösschen, passieren Straßen mit klangvollen Namen, wie Baron-Vogt-Straße, Jürgensallee oder Parkstraße. Hier zu wohnen ist ein Privileg und für die Allgemeinheit unerschwinglich.
Die Schulen dieser Gegend haben keine sozial unverträgliche Vermischung, kein Übergewicht der türkischen oder arabischen Sprache. Sie sind `sauber´, sie gehören den Erfolgreichen, erfreuen sich höchsten Spendenaufkommens und bleiben elitär, für andere unzugänglich. Die vielen Drogenprobleme der Kinder aus den umliegenden besten Häusern werden still und ohne Aufheben intern geregelt. Man kennt das seit Jahren und offiziell ist ein derartiges Thema nicht existent. Man hat hier keine Probleme und im Falle einer zu großen Auffälligkeit wird der Schüler dezent in ein adäquates Internat umgeschult.
Marta und Julius erreichen das italienische Restaurant, welches rückwärtig zur Altonaer Kinderklinik liegt. Sie steigen aus und setzen sich an einen Tisch, der von einer großen blau-weißen Markise überdeckt ist. Sie werden jetzt bestellen und sich Mühe geben, eine Stunde nicht an all ihre Probleme zu denken.
Während die beiden bei Antipasti und Spagetti di Mare sitzen, sind wir anderen fast in unmittelbarer Nähe. Der Altonaer Bahnhof liegt wenige Autominuten vom Restaurant entfernt und weder Marta, noch Julius ahnen, dass dort gerade etwas Aufregendes passiert.
Fredo hat es in der Bahnhofsvorhalle besonders eilig und geht unserem kleinen Männer-Trupp dominant voran. Willi versucht mit aller Macht unverdächtig auszusehen. Künstlich schlendert an der Seite von Ruprecht und fällt dabei so auf, dass er sich auch gleich ein Schild mit der Aufschrift `Taschendieb´ vor seine Brust hätte halten können. Fritz ist unsicher, ihm ist die Sache sichtlich unangenehm. So schwitzt er gerade noch mehr, als sonst. Fredo aber geht unverblümt an den Informationsschalter. Dort erkundigt er sich nach dem Ort, wo die Schließfächer für die Gepäckaufbewahrung zu finden sind. Ich sehe, wie ihm mit dem Finger die Richtung gezeigt wird. Fredo nickt der jungen Frau im Schalter einen kurzen Dank zu und deutet uns anderen mit dem Kopf dorthin, wo die Schließfächer sein sollen.
Kurz darauf nähern wir uns dem Bereich und zögern gleich wieder. Ruprecht gebietet, kurz noch einmal zusammen zu kommen und möchte etwas erklären.
„Also, ich denke, es ist nicht unbedingt förderlich, wenn wir uns jetzt zu fünft vor die Schließfächer begeben und blöd wie Ochsen dreinschauen.“ Er sieht uns reihum an und prüft unser Einverständnis. „Ich schlage vor, dass Fredo und ich zu zweit an die Schränke gehen und erst einmal schauen, ob es hier überhaupt ein Fach mit dieser Nummer gibt. Sollte es kein Fach geben, dann kommen wir ohne weitere Anzeichen einfach wieder zu Euch zurück. Ihr könnt ja eine Rauchen und Euch über das Wetter unterhalten.“
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