Das Landrecht war klar, der Hof würde nach dem Tot des Vaters ihm gehören. Sein kleiner Bruder würde leer ausgehen, bis auf eine eher bescheidene Abfindung, die ihm zustand. Das Gesetz war klug, denn sonst wären die Bauernhöfe bald alle schwer verschuldet gewesen – die Zeiten waren weiß Gott hart genug. Ob es auch gerecht war, diese Frage konnten sich die Bauern in dieser harten und unwirtlichen Gegend, wo oft das notwendige zum Überleben dem Boden regelrecht abgerungen werden musste schon seit Hunderten von Jahren nicht stellen.
Aber bei den Höfingern war es anders. Das Gut war groß genug um beide Brüder mit Familie gut zu nähren und Sepp hatte das seinem Bruder auch immer wieder angeboten, alleine der bestritt dass er wegen des Hofes oder sonst etwas mit dem Bruder im Zwist war. „Lass es, Josef“, hatte er mit einem gequälten Seufzer ganz tief aus seinem Herzen gesagt, „ich will den Hof nicht der von Rechts wegen Dir gehört. Mich hält nichts hier und wenn der Vater verscheidet dann will ich in die Fremde gehen und dort mein Glück suchen, den hier kann ich es nicht mehr finden!“
Theresia Rendl, der langsam dämmerte, das hier eine Verwechslung vorliegen musste wollte gerade etwas sagen, als es aus dem Zimmer hinter der Stube herausdröhnte: „Sepp, wer ist da, wenn’s der Pfarrer ist, der alte Totenvogel, schick ihn wieder heim und sag ihm dass ich sein Brimborium nicht brauche.“. „´s ist eine neue Tierärztin, Vater, rief Sepp in die Schlafstube des Vaters. „Eine Weibsperson als Studierte, na das kann ja heiter werden, was ist das nächste. Frauen bei der Polizei? Ich bin froh dass ich bald das zeitliche Segne. Bring sie rein die Frau Doktor. Einem jeden vertraue ich mein Vieh nicht an!“. Noch ehe Theresia protestieren konnte fand sie sich in der Kammer des Altbauern wieder.
Alois Höfinger saß in seinem alten Lehnstuhl, gut eingewickelt in mehrere Decken, der Kopf aufrechtgehalten durch ein überdimensionales Daunenkissen. Die Haare des achtundsechzigjährigen waren grau und ungekämmt und sein hartes, kantiges Gesicht spiegelte seinen unbeugsamen, oft auch unerbittlichen Charakter wieder. Die Krankheit hatte ihm sichtlich zugesetzt, aber trotzdem deutete nichts darauf hin, dass es Alois Höfinger dem Tod leicht machen würde. Mit seinen kräftigen Händen war er gerade dabei eine Walnuß zu knacken als Theresia eintrat.
Was dann geschah ging so schnell, dass es auch nachher niemand so richtig verstand. Der alte Höfinger blickte auf, die Lippen bereits für eine spöttischen Bemerkung geöffnet, als er wie zu einer Salzsäule erstarrte. Kaum hatte er die vermeintliche Tierärztin erblickt riss er seine Augen auf und er erbleichte, als hätte er gerade den Leibhaftigen und nicht ein junges, reizendes Mädchen von 24 Jahren erblickt. Wie beim Gastmahl des Nebukadnezar schien eine unsichtbare Hand für ihn sein Mene Tekel mit Blut an die Wand zu schreiben.
Er öffnete den Mund ganz und schien etwas sagen zu wollen, den knöchernen Finger auf die junge Frau gerichtet, die nicht wusste wie ihr geschah. Aber kein Laut kam über seine Lippen nur ein stotternder Seufzer. Dann begann die sonst so ruhige und selbstsicher Hand zu zittern und mit einem Mal griff sich der Altbauer, der inzwischen bleich wie die gekalkte Mauer war, ans Herz. Ein Schaudern durchlief den ganz in sich zusammengesackten Körper. Dann aber fiel der Alois Höfinger wie tot zu Boden, die Hand noch immer in der Decke verkrallt und die offenen, starren Augen auf die junge Städterin gerichtet.
Josef Höfinger war der erste der sich von dem Schrecken erholte. Während sein Bruder Thomas nur ein „Vater“ stammelnd hervorbrachte war der Sepp schon bei ihm um den Puls zu fühlen. „Das Herz schlägt noch, aber nur mehr ganz schwach“, rief er. „Schnell, Thomas hol den Doktor“.
Aber der junge Bruder stand nur wie angewurzelt da und hatte die Hand der herbeigeeilten Doris ergriffen. Da war es Theresia, die als erste die Sprache wieder fand. „Ich hole den Doktor“, sagte sie, ohne zu wissen wie sie das eigentlich anstellen wollte. Sie stürzte aus dem Zimmer, noch immer verwirrt von dem schrecklichen Ereignis stürzte sie in den Flur, wo sich ein Telefon befand. Glücklicherweise war ein Zettel mit wichtigen Telephonnummern darüber angebracht und so wählte sie, ohne lang zu überlegen, die angegebene Nummer von Doktor Wagner. Der staunte nicht schlecht als er von einer völlig Fremden vom Abendessen weggerufen wurde. Es dauerte auch eine Zeit bis er verstand, was die junge Frau von ihm wollte die nicht einmal wusste, woher sie anrief. Als sie ihm aber den Vorfall schilderte dachte er gleich an den alten Höfinger und versprach sofort zu kommen.
Sofort ging Theresia wieder zurück in die Kammer, wo der Altbaue noch immer am Boden lag, Josef Höfinger hielt die Hand des schwer Gezeichneten. Sie wollte ihm schon ein Kissen unter den Kopf schieben, meinte dann aber: „Sollten wir ihn nicht besser ins Bett legen?“. Der Höfinger nickt und während die Beiden den alten Mann in seine Liegestatt betteten standen Doris und Thomas da und sahen wie geistesabwesend zu. Erst als der zitternde Körper zugedeckt war löste sich Thomas aus seiner Starre und sah seinen Bruder fragend an. „Josef, was ist passiert, wer ist diese Frau und warum hat sie den Vater so erschreckt?“
Josef schüttelte den Kopf. Für die unerwartete und umso heftigere Reaktion seines Vaters hatte er keine Erklärung. Es musste sich um einen Zufall gehandelt haben. Schließlich war der Alte schon schwer krank gewesen. Trotzdem betrachtete er Theresia mit einer scheuen Neugier und einem leichten Schaudern. Irgendwas schien ihm bekannt vorzukommen an ihr, auch wenn er sicher war, sie noch nie gesehen zu haben. Daran hätte er sich erinnert, so wie sie aussah.
„Das ist die Tierärztin, Thomas, Dr. Scherer war offensichtlich verhindert. Sie ist zum ersten mal hier, Vater kann sie also gar nicht kennen. Erzähl nur ja keine Geschichten im Dorf, du weißt wie schnell getratscht wird.“ Jetzt war es aber an der Zeit das Missverständnis aufzuklären. “Es tut mir schrecklich leid was da passiert ist, ich gehöre gar nicht hierher. Ich bin keine Tierärztin sondern Notariatsanwärterin in der Kanzlei Bangwieser aus der Hauptstadt. Am Bahnhof dachte ich, der Herr hier bringt mich ins Hotel und ehe ich’s mich versehen habe war ich schon hier drinnen und dann dass....! Sie blickte stumm auf den Kranken, von dem jetzt ein schwaches, abgehacktes Röcheln zu hören war.
Josef Höfinger lachte hysterisch. Der Schrecken und die Anspannung der letzten Tage und Stunden war zuviel für ihn geworden. „Eine Stadtpflanze und eine Gstudierte auch noch dazu hab ich mir eingefangen. Statt einer Pillendreherin habe ich mir eine Rechtsverdreherin eingehandelt. Bravo Frau Doktor, gesund werden Sie mein Kalb nicht machen können, geschweige denn den Vater, aber vielleicht wollen sie ja den letzten Willen des kleinen Kälbchens aufnehmen?“ Erschrocken sah ihn Theresia an. Der so sicher wirkende kräftige Mann hatte für einen Augenblick seine Fassung verloren. Der Schock über das Ereignis musste tief sitzen, oder war da noch etwas anderes, dass an ihm nagte? Trotzdem, ein solches Benehmen hatte sie nicht verdient. Sie war drauf und dran ihn scharf zur Ordnung zu rufen als sie die sanften aber bestimmten Hände von Doris Stubheimer aus dem Zimmer geleiten.
„Kommens bitte,“ sagte die Bäuerin leise, „gehen wir in die Stuben bis der Doktor kommt.“ Sie hatte wieder zu sich gefunden und erinnerte sich daran was sich gehörte. Die junge Frau war Gast auf diesem Hof und wie ein Gast würde sie auch behandelt werden. Flug stellte sie ein Stamperl von dem besten selbstgebrannten Vogelbeerschnaps auf den Tisch und füllte eine große Tasse mit herrlich duftendem Kräutertee. Theresia trank so gut wie nie Alkohol, sah aber ein dass das jetzt vielleicht wirklich die richtige Medizin war. Sie nahm das Glas in die Hand und mit zusammengekniffenen Augen trank sie es auf einen Sitz aus. Der Schnaps brannte die Kehler herunter wie Feuer und es schüttelte sie, aber kurz darauf breitete sich wohlige Wärme in allen Adern ihres Körpers aus. „Danke“, sagte sie. „Das war jetzt genau das richtige. Übrigens, ich glaub ich hab mich noch gar nicht vorgestellt, Theresia Rendl“ und sie bot der Bäuerin die ausgestreckte Hand dar. Doris wischte ihre Hand in der Schürze ab, schüttelte die Hand der neuen bekannten und stellte sich auch vor.
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