„Bis jetzt nicht. Ich hatte noch keine Gelegenheit, mich mit ihm in Verbindung zu setzen.“
„Wir sollten ihm die letzte Entscheidung überlassen.“
„Warum sollten wir von unseren heiligen Prinzipien abweichen? Wir werden ihn informieren und dann gemeinsam über die wichtigen Dinge entscheiden, so wie unser Orden das schon immer getan hat.“
„Aber sagtest du nicht eben gerade, du hättest die Entscheidung bereits getroffen?“
„Für den Fall, dass wir den Meister und die anderen Brüder nicht rechtzeitig erreichen, brauchen wir einen Plan B. In diesem Fall werde ich tun, was zu tun ist.“
„Also ist Eile geboten!“
Wieder einmal griff der Magus in seine Manteltasche und schickte eine Fledermaus auf die Reise. Die Bruderschaft musste zusammengerufen werden, so schnell wie möglich.
„Sag' mal, wo wir gerade über Sinja sprachen: ich habe gehört, sie säße in der Bibliothek über den Mozartnoten. Ist da was dran oder ist das ein Gerücht?“
„Nein! Das ist kein Gerücht. Myriana hat dummerweise vor ihrem Verschwinden einen Code auf ihrem Kosmetikspiegel hinterlassen, in dem sie auf die Oper hinwies. Wir haben ihn leider nicht rechtzeitig entdeckt, als wir das Zimmer durchsuchten, sonst hätten wir ihn beseitigt. Ich weiß nicht, was sie damit bezweckte. Sinja fand ihn natürlich sofort. Sie wusste damit zunächst nichts anzufangen, hatte aber die richtige Idee und bat mich, die Bibliothek besuchen zu dürfen.“
„…und du wolltest das nicht verhindern?“
„Ich sah keine Möglichkeit, es abzulehnen, ohne ihr Misstrauen zu erregen. Wir brauchen sie noch!“
„Natürlich! Meinst du, sie wird dahinterkommen?“
„Hinter was? Die Bedeutung von Arie Nr. 14 oder die der ganzen Oper?“
„Beides!“
„Nun, im Moment beruht alles, was sie tut, auf Spekulation, aber das Mädchen ist klug! Sie wird zwei und zwei zusammenzählen und sowohl das eine wie das andere bald herausfinden, da bin ich mir sicher. Die Frage ist nur, wie lange es dauert, bis sie die ganze Dimension der Geschichte begreift und wie viel Zeit uns bleibt, um zu tun, was wir tun müssen!“
Zabruda zog die rechte Augenbraue nach oben. Die beiden Männer verabschiedeten sich wortlos. Der Magus setzte seinen Spitzhut auf sein graues, langes Haar und verschwand mit wehendem Mantel aus dem Schloss, so wie er kurz zuvor gekommen war.
Mit Riesensätzen sprang Sinja die acht weißen Marmorstufen hinunter und stand auf einem großen, gepflasterten Platz. Hinter ihr die mächtigen, weißen Säulen, die das Vordach der Musikbibliothek trugen. Direkt gegenüber die Sandsteinarkaden des Palastes der Bürgermeisterei. Im Zentrum des Platzes konnte sie im Halbdunkel einen großen Brunnen erkennen, in dessen Mitte, auf einem Sockel, ein, aus Sandstein gehauener Spielmann mit seiner Laute stand. Seine Kleidung, besonders die langen, spitzen Schuhe, erinnerten an Till Eulenspiegel. Das Klappern von Hufen war zu hören. Ein alter, grauhaariger Mann lenkte einen einachsigen Holzwagen in eine der engen Gassen hinein, die von dem Platz abgingen. Er trug ein Hemd, das vor sehr langer Zeit einmal weiß gewesen sein musste. Der Wagen war mit Kohle beladen und wurde von einem Esel gezogen. Sinja sah einige Frauen, die, mit vollen Körben, an der Bibliothek vorbeihuschten, ohne ihr Beachtung zu schenken. Eilig suchten sie, ihre späten Einkäufe, Kohlköpfe, Brote, Kartoffeln und Rüben nach Hause zu bringen, bevor es gänzlich dunkel wurde. Herde wurden angefeuert, Schornsteine rauchten. Der Geruch von brennendem Feuerholz zog durch die Gassen. Ein Wachsoldat in schwarz-weiß-oranger Uniform, silberglänzendem Helm und Brustpanzer, war im Begriff, die Laternen zu entzünden, die den Platz umstanden. Seinen Panzer schmückte das Wappen der Stadt. Fasolanda bereitete sich vor, den Sonnentanz zu verabschieden.
Sinja schaute nach links. An dieser Seite des Platzes stand ein weiteres großes Gebäude. Es war ganz offensichtlich wichtig, denn es hatte einen, ebenfalls aufwändig gestalteten, großen Eingangsbereich. Seine schwarzen Säulen luden allerdings nicht gerade zum Eintreten oder Verweilen ein. Im Gegenteil, sie hatten etwas Unheimliches, Monströses, Abstoßendes. Sinja dachte an eine Grabkammer. Sie schüttelte sich. Dann zwang sie sich, ihren Blick von dem finsteren Gebäude zu lösen. Noch einmal ließ sie sich den leisen, warmen Wind um die Nase wehen, der über den Platz strich. Sie verlor sich an die Abendstimmung, doch nicht für lange. Denn plötzlich nahm sie etwas Seltsames wahr.
Aus einer der dunklen Gassen kamen drei kleine, silbrig-blau leuchtende Lichtpunkte auf den Marktplatz zu. Sie steuerten in ihre Richtung. Wäre ihr Licht nicht so kalt gewesen, hätte man sie für Glühwürmchen halten können. Sie bewegten sich unruhig hin und her, auf und ab und kamen schnell näher. Sinja versuchte angestrengt, in der zunehmenden Dunkelheit zu erkennen, was hinter den merkwürdigen Erscheinungen steckte, doch sie sah nur diese drei Lichter, sonst nichts. Waren das Augen? Eben noch war sie im Übermut die große Marmortreppe hinuntergesprungen. Jetzt ging sie, geduckt, langsam rückwärts wieder hinauf, ohne die Lichter aus den Augen zu lassen. Sie versteckte sich hinter einer der Säulen. Die Lichter kamen näher. Immer weiter schob sich Sinja um die Säule herum.
„Hey, psst! Wo bist du?“, wisperte eine Stimme.
„Verdammt“, flüsterte kurz darauf eine zweite Stimme, „Komm´ raus! Wir haben dich gesehen!“
Sinja schob sich noch einen Schritt weiter um die Säule herum und stieß dabei mit dem rechten Fuß gegen einen Kieselstein, der im Weg lag. Der hüpfte klackernd die Treppe hinunter. Eines der Lichter kam blitzschnell die Treppe hinauf und leuchtete Sinja direkt ins Gesicht. Es war nicht einmal sonderlich hell, aber es reichte aus, um sie so zu blenden, dass sie nichts mehr erkennen konnte.
„ Hier bist du!“, rief die erste Stimme, „wir dachten schon, du seist auf der Flucht!“
„Das bin ich auch….!“, sagte Sinja ängstlich, „….vor euch. Wer seid ihr?“
„Sag mal, erkennst du uns wirklich nicht oder tust du nur so?“
„Nein! Wer seid ihr?“
„Na wir sind´s: Emelda, Gamanziel, Ferendiano!“ Emelda hielt ihr Licht so, dass Sinja ihr Gesicht erkennen konnte. Sie sah Emeldas rote Haare, ihre spitzen Elfenohren, ihre ernsten, tief grünen Augen.
„Seid ihr irre? Ihr habt mich zu Tode erschreckt! Ich war so in Gedanken, dass ich eure Stimmen nicht erkannt habe. Warum treibt ihr euch hier im Dunklen auf dem Marktplatz rum?“
„Das fragt die Richtige! Wir haben dich gesucht. Du solltest eigentlich schon längst wieder im Schloss sein!“
„Ja! Meine Güte! Es hat etwas länger gedauert. Du weißt ja, wenn ich Bücher in die Hände bekomme….Aber ich habe interessante Dinge erfahren, die ich euch gleich erzählen muss. Und warum seid ihr noch unterwegs?“
„Wir haben uns in der Stadt umgesehen und mal gehört, was man sich so alles erzählt in Fasolanda. Außerdem waren wir in der Stockhausengasse bei Joni Meander und haben uns diese neuen Leuchtkugeln hier besorgt. Und als wir ins Schloss zurückkamen und du nicht da warst, haben wir uns Sorgen gemacht und sind nochmal losgezogen, um dich zu suchen.“
Emelda hielt eine der Kugeln hoch in die Luft. Sie funkelte und glitzerte wie ein Silberstück.
„Ist das nicht spitze?“, fragte sie. „Joni hat das Modell so weiterentwickelt, dass es jetzt auch im Freien brauchbar ist. Hast du gesehen, wie die Dinger leuchten?“
„Ja, ich hab´s gemerkt. Ihr habt mich ganz schön erschreckt mit dem Zauber!“
„Das ist kein Zauber! Joni ist Erfinder, kein Magier.“
„Der feine Unterschied ist meinen Nerven im Moment ziemlich egal!“, beschwerte sich Sinja.
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