„Pscht!“, zischte ihr Tischnachbar. Oh, dachte Sinja. War ich zu laut oder kann der Kerl meine Gedanken hören. Sie schaute sich verstohlen um und sah, dass der Nachbar spitze Elfenohren hatte. Dass er die unausgesprochene Frage nicht beantwortete, beruhigte sie.
Sie schaute sich das Inhaltsverzeichnis an, danach die erste Seite der Ouvertüre. Schon am allerersten Takt blieb sie hängen. Ein Es-Dur-Akkord. Drei b als Vorzeichen. Moment! Das kleine b. Da war es wieder. Ein Vorzeichen! Hatte die Königin vielleicht ein Vorzeichen gemeint, als sie dieses eine, kleine b hinter Mozart, Wolfgang Amadeus – Zauber Flöte gemalt hatte. Ein b als Vorzeichen? Das war zumindest denkbar, eine Möglichkeit. Ein b? Welche Tonart war das gleich wieder? Sie überlegte. Wie war das mit dem Quintenzirkel? Es gab da diesen Merksatz. Wie ging der? Frische – Brötchen – Essen – Alte – Damen – Gern. Also war ein b F, wie frische….Ein b, das muss F-Dur sein! Gehen wir dieser Spur einmal nach. Wo kommt in dieser Oper F-Dur vor? Sinjas Gehirn arbeitete auf Hochtouren, Presto Vivace. Zum Glück waren die Tonarten der Lieder im Inhaltsverzeichnis angegeben. Das erste Lied in F-Dur fand sich im Finale des ersten Aktes: `Nun, stolzer Jüngling, nur hierher´ war der Titel. Sarastro erklärt Pamina, warum er sie ihrer Mutter entziehen will. Monostatos schleimt sich bei Sarastro ein und versucht Tamino reinzureiten? Nein! Das ist Teil der Oper, hat aber sicher nichts mit Königin Myriana und ihrem Verschwinden zu tun. Nächstes Lied in F: `Marsch der Priester´. Macht keinen Sinn! Das nächste: `O Isis und Osiris´. Ein Lied nach dem anderen ging sie durch, schaute sich alle an, die in F-Dur geschrieben waren. Nichts! Dann, das letzte in F. Das muss es sein, sonst hab´ ich verloren!, dachte Sinja und wurde nervös. `Tamino mein, oh welch ein Glück´ singt Pamina. Oh Mist, was für ein Unglück!, dachte Sinja. Das war wohl nix. Jetzt stehe ich wieder am Anfang. Die ganze Arbeit war umsonst!
Ernüchtert ließ Sinja den Kartondeckel los. Das dicke Buch klappte mit einem dumpfen Geräusch zu. Einige Staubflocken wirbelten fröhlich durch die Luft, als wollten sie sich über Sinjas Verzweiflung lustig machen. Für einen Moment starrte sie in die Weite des Lesesaales und fühlte sich genauso leer wie dieser riesige Raum.
Doch etwas in ihr weigerte sich, gerade jetzt aufzugeben. Irgendwo in ihrem Inneren war noch ein Funke Hoffnung am Glimmen. Doch, womit sollte sie dieses kleine Licht am Leuchten halten? Sie dachte nach. Ein b? Ein b? Plötzlich kam ihr die Idee. Zu jeder Dur-Tonart, das hatten sie doch im Musikunterricht lernen müssen, gab es etwas, das sich parallele Molltonart nannte. Sie war sich damals vollkommen sicher gewesen, dies in der Kategorie `völlig überflüssiges Wissen´ abspeichern zu können. Wofür soll das denn gut sein?, war der Tenor in der Klasse gewesen. Jetzt konnte, wenn ihre Vermutung sich als richtig erwiese, die parallele Molltonart ihr eventuell dabei helfen, Licht in diese Entführungsgeschichte zu bringen. Sie sah das strenge Gesicht ihres Musiklehrers vor sich. Peinlich war das, auch wenn er niemals etwas davon erfahren würde.
Moment! Langsam!, rief sie sich zur Ordnung und versuchte, ihre Gedanken zu Ende zu denken. Wie war das mit der Mollparallele? Verflixt nochmal! Ich muss mich erinnern. F-Moll? Blödsinn! Dass ist keine Parallele. Die war tiefer, aber wieviel? Einen, zwei, drei Halbtöne? Drei Halbtöne! Ich glaube, das war´s, dachte Sinja und jubelte innerlich. Das war es gewesen, was sie gelernt hatten. Die Mollparallele ist drei Halbtöne tiefer. Also ist das was?, fragte sie sich. F, E, Es, D? D-Moll? Vielleicht hatte die Königin mit ihrem b gar nicht F-Dur gemeint, sondern D-Moll? Also, von vorne.
Noch einmal die Suche nach der richtigen Tonart. Erneut schlug Sinja das dicke Buch auf. Sie blätterte. Erster Akt: Nichts! Zweiter Akt: F-Dur, F-Dur, C-Dur, G-Dur, C-Dur und dann, da….endlich…da war es…D-Moll. Das einzige Lied in dieser ganzen Oper, das in D-Moll geschrieben war, war die Arie Nummer 14, `Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen´. Die Arie der Königin der Nacht. Sinjas Herz machte einen Hüpfer. Sie überflog die Textzeilen: Die Königin drückt ihrer Tochter Pamina einen Dolch in die Hand und erklärt ihr, dass sie damit Sarastro zu ermorden hat und wenn sie das nicht täte, sei sie nicht mehr ihre Tochter. Meine Tochter nimmermehr….Ist das die Geschichte? Pamina hat natürlich nicht die geringste Lust, irgendjemandem auf Geheiß ihrer Mutter ein Stück Stahl in den Bauch zu rammen….Würde mich brennend interessieren, was unsere Königin zu diesem Text zu sagen hat. Ich gehe jede Wette ein: das ist es, das Geheimnis des kleinen b. Königin Myriana wollte uns mit ihrem Code auf diese Mutter – Tochter - Geschichte hinweisen! Ich muss mit den Anderen reden! Dringend! Noch einmal ließ Sinja den schweren Kartondeckel fallen. Dieses Mal stoben keine Staubflocken auf.
Die Sonnen hatten ihren Tanz beendet, den dritten seit der Entführung. Es dämmerte in der Hauptstadt. Um die Mitte der Dunkelzeit würde sich der Entführer Cheety Bugga in Begleitung der Königin am alten Brunnen einfinden. Er würde die Zaubergeige, dass flammende Herz entgegennehmen und dafür die Königin in die Freiheit entlassen. Das war der Plan.
„Will die Bruderschaft diesem Betrüger wirklich die Geige aushändigen, Zabruda?“
„Wir haben keine andere Wahl, wenn wir Königin Myriana befreien wollen!“
„Bedenke aber bitte, was geschehen kann, wenn dieses Instrument in die falschen Hände gerät. Welche Macht wird der Unerhörte haben, wenn er mithilfe der Zaubergeige den siebenfachen Sonnenkreis in Gang setzen kann.“
„Ich weiß, Magus! Es würde schreckliche Folgen haben, doch das Leben der Königin ist erst einmal das Wichtigste. Wir müssen die Dinge Schritt für Schritt angehen. Zunächst befreien wir Königin Myriana, auch auf die Gefahr hin, dass Cheety dann die Geige in seinem Besitz hat. Dann werden wir ihm die Leibgarde auf den Hals hetzen und uns das Instrument zurückholen. Danach setzen wir uns mit dem Unerhörten auseinander und versuchen, die Schriftrollen mit dem Sonnenkreis zurück zu bekommen.“
„Feiner Plan, Zabruda. Aber was, wenn er schiefgeht. Wenn zum Beispiel Cheety Lunte riecht und die Königin nicht freigibt. Oder er gibt sie frei, verschwindet mit dem ´flammenden Herz´ im Labyrinth und wir finden ihn nicht mehr rechtzeitig, bevor er die Geige an den Unerhörten verkauft. Oder wir finden ihn, aber zu spät. Du weißt, dieser Kerl ist eine Ratte und Ratten finden immer irgendwo ein Schlupfloch. Im Labyrinth wird man sehr schnell unsichtbar. Es heißt nicht umsonst `das Labyrinth´. Dein Plan enthält viele Fallen für uns. Sehr viel Wenn und Aber, wenn du mich fragst. Was, wenn auch nur eines davon schiefgeht? Willst du es verantworten, dass der Unerhörte den Sonnenkreis in Gang setzen kann und damit die vollkommene Macht über beide Welten in die Hand bekommt?“
„Es darf eben nichts schiefgehen!“
„Weiß eigentlich Sinja schon von deinem Plan? Schließlich ist es ihr Instrument, das ihr da so großzügig zum Tausch anbietet!“
„Ich habe nicht die Absicht, sie in unsere Pläne einzuweihen.“
„Warum die Geheimniskrämerei?“
„Je weniger Leute davon wissen, desto sicherer sind wir. Wenn Sinja es weiß, dann wissen es auch die Elfen und ich bin mir bei einigen von ihnen nicht ganz sicher, ob sie ein Geheimnis wirklich für sich behalten können. Deshalb halte ich es für besser, es ihnen erst gar nicht zu erzählen.“
„Und wie willst du dann an die Geige kommen?“
„Ich denke, Gustav wird das für uns regeln!“
„Und der Meister? Ist er eingeweiht?“
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