Einige der Tische, Stühle und Regale waren erstaunlicherweise noch recht gut in Schuss, sie waren tatsächlich aus Steineiche gemacht. In den Truhen, die noch intakt waren, befanden sich Geschirr, Besteck und was man sonst noch zum täglichen Leben unter Tage benötigte. Alles nicht mehr wirklich zu gebrauchen. Der Sonnenstein begann, an Leuchtkraft zu verlieren und da Bajo gerade noch für einen Tag genügend Wasser hatte, entschloss er sich, schnell das Nachtlager zu bereiten. Um vor eventuellen Unannehmlichkeiten von unten geschützt zu sein, machte er es auf einem großen Tisch zurecht.
Bevor er aber schlafen ging, musste er noch einmal austreten. Mit dem Restlicht lief er zu einer Nische, die er vorher nicht weiter beachtet hatte und wo er sich nun eben erleichtern wollte. Als er mit dem Fuß gegen eine Art Pritsche mit Stoffresten darauf stieß, fiel die in sich zusammen und etwas Weißliches kam zum Vorschein. Jetzt wurde Bajo neugierig und um besser sehen zu können, was da wohl lag, legte er den Sonnenschein doch noch einmal ins Wasser. Sobald dieser wieder hell erleuchtet war, ging Bajo mit einem halbwegs stabilen Holzstück zurück zur Nische. Vorsichtig befreite er das weiße Etwas. „Oje, das ist doch nicht etwa…“, musste er laut sagen, denn er hatte bereits eine gewisse Befürchtung. Langsam, aber gezielt, fuhr er fort. „Buahh, ich hab’s doch geahnt…“, rief er angewidert. Er hatte die Rippen eines Skeletts freigelegt. Mit etwas Überwindungskraft machte er weiter und fand noch mehr Teile sowie den Schädel. Dieser wies ein großes Loch auf und Bajo schlussfolgerte, dass diese Person anscheinend im Bett erschlagen oder erschlagen und dann aufs Bett gelegt worden war. „Und ich hätte fast drauf geschifft…“, ekelte sich Bajo. Er griff das Wuko mit dem leuchtenden Stein und wollte sich gerade umdrehen, um einen anderen Platz zu suchen, als er etwas in der Mitte des Skeletts für einen Moment funkelnd aufblitzen sah. Mit dem Holzstück legte Bajo einen Stein frei, nahm ihn mit dem Taschentuch hoch und polierte ihn. „Vermutlich hatte der Getötete die Gefahr kommen sehen und den Stein schnell verschluckt, um ihn vor Dieben zu schützen.“, mutmaßte Bajo, denn dieser lag ungefähr da, wo sich einst der Magen befunden hatte, „Genützt hatte es ihm aber nichts, mit eingeschlagenem Schädel!“
Der Stein hatte etwa die Größe einer Kirsche, war von ovaler Form und recht leicht. Dunkelrot mit vielen glitzernden Elementen schimmerte er nun in Bajos Hand. Dieser kannte sich mit Edelsteinen nicht aus, aber er wusste, dass Bernstein sehr leicht war. Vielleicht war das etwas Ähnliches und für die Schmuckherstellung zu gebrauchen. Malvor hatte Bajo einen Beutel mit Gold- und Silbermünzen hinterlassen, damit er bei seiner Suche einige Zeit unabhängig sein konnte. Aber wenn er schon auf den Stein gestoßen war, wollte er ihn auch mitnehmen. Wer konnte es schon wissen, ob er eines Tages nicht doch ein paar Münzen brauchen würde. Dann könnte er seinen Fund immerhin verkaufen. Also verstaute Bajo den Stein in dem einen Geheimfach seiner Gürtelschnalle, wo die neue Kostbarkeit gut hineinpasste. Er erleichterte sich in eine andere Ecke und legte sich endlich schlafen.
Zur Ruhe kommen konnte er jedoch nicht, denn nach Bajos Schätzung musste er sich in etwa im Gebiet der Gexen aufhalten und die lebten ja, wie Malvor erzählt hatte, hauptsächlich unter der Erde. Auch hatte Bajo auf dem Fußboden etliche Kriechspuren gesehen und die Erinnerung an die schreckliche Nacht seines Wegs in den Grauenwald ließ ihn erschauern. Er lauschte angestrengt in die Umgebung, aber es tat sich nichts und die Befürchtungen, eine schlaflose Nacht zu haben, bewahrheiteten sich am Ende nicht. Im Gegenteil, als Bajo aufwachte und sich aufrichtete, sah er helles Licht in der Öffnung; man konnte fast sagen, er hatte verschlafen. Flugs wurden die Sachen gepackt und schon stand Bajo in dem, ihn hoffentlich rettenden, Schacht. Hier war die angestrebte Ebene fast genauso hoch wie vom Vorsprung in der Spalte. Die Kluft dort war breit und uneben, der Schacht hier aber mit Ziegelsteinen gemauert und schmaler. Bajo kam auch schon eine Idee, wie er nach oben kommen würde, denn die Sprossenwand konnte er unmöglich benutzen. Früher, in der Schule, hatte es einen kleinen Raum gegeben, der fast direkt unterhalb der Decke ein schmales Fenster mit einer Fensterbank hatte. Da oben hatte Bajo sein Geheimversteck gehabt und er konnte es erreichen, indem er sich, an einer Wand stehend, zur anderen Seite fallen ließ und sich dort abstützte. Schräg, ja fast waagerecht, klemmte er so zwischen den Wänden und lief sozusagen mit Händen und Füßen nach oben. Dann legte er, mit nur einer Hand drückend, welchen zu verbergenden Gegenstand auch immer, dorthin. Das war immer der schwierigste Teil gewesen und ein-, zweimal wäre er auch beinahe abgestürzt.
So wollte er es jetzt auch machen, Bajo holte tief Luft und begann mit dem Aufstieg. Doch dies war keine trockene, griffige Schulwand. Die Mauer war feucht und an manchen Stellen glitschig und brüchig. Nach noch so einem Sturz aus der Höhe verspürte Bajo wahrlich kein Verlangen. So mühte er sich eher langsam, dafür sicher, Richtung Freiheit. Sein stetiges Üben machte sich bezahlt, denn obwohl er schweißgebadet am Rand ankam, hatte er doch noch genügend Kraft, um die letzte Hürde nehmen zu können: Er musste sich jetzt fest an die Ziegel klammern, mit den Füßen in die gleiche Höhe tippeln, dann mit dem Bein über den seitlichen Rand gleiten, um sich am Ende mit seinem ganzen Körper herüberzuschieben. Der Moment, in dem er genau waagerecht zwischen den Wänden klemmte, war der schlimmste, denn Bajo warf dummerweise einen kurzen Blick in die Tiefe. Ein dumpfes Zucken im Magen ließ ihn fast abgleiten. Nur mit äußerster Mühe behielt er sich im Griff und schob sich, fast schon zitternd, schließlich doch noch auf die rettende Seite. Er wälzte sich auf den Rücken, beziehungsweise auf Rucksack und Wuko und schaute erschöpft, aber glücklich in die leicht wogenden und sonnendurchfluteten Blätter der Bäume. So lag er erst einmal eine Weile da und genoss die herrlich frische Luft, die ihm um die Nase säuselte.
Nachdem Bajo sich gesammelt, seine Klamotten abgeklopft und zurechtgerückt und auch den Sonnenstein wieder verstaut hatte, guckte er den richtigen Weg aus und setzte seine Wanderung fort. Das nächste Ziel würde ein kleines Gewässer sein müssen, denn die Feldflasche musste dringend wieder gefüllt werden. Stunde um Stunde verging, aber kein Flüsschen oder Tümpel war in Sicht. Bei einer Rast verzehrte er die letzten Vorräte und nahm den letzten Schluck Wasser. „Wie wunderschön der Wald doch ist, vor allem, nach so einer Nacht in der Dunkelheit“, dachte sich Bajo und ließ sich das Gesicht von der Sonne wärmen. Er fühlte sich gut und glücklicherweise taten ihm seine Knochen nach dem schweren Sturz in die Spalte auch gar nicht mehr so weh. „Jetzt aber weiter, das nächste Abenteuer wartet. Und ich will ja schließlich meinen ersten Gefährten finden!“, rief er vergnügt und setzte seinen Marsch fort. Als es fast schon wieder dunkel wurde, machte er Halt und fragte sich, ob er wohl schon das Gebiet der Gexen verlassen hatte. Wäre das nicht der Fall, müsste er sich vor der Nacht fürchten, denn laut Malvor konnten die Gexen bis in die Wipfel der Bäume hinaufkriechen, auch wenn ein feuchter, löchriger Boden ihr eigentliches Revier war. Bajo untersuchte die Umgebung genau, der Untergrund war recht trocken und es gab kaum Büsche oder Unterholz. Auch hatte er keine Spuren von Raubtieren gesehen und so beschloss er, sich schon hier für die Nacht einzunisten. Nach einigen Übungen, mit und ohne Wuko, begab sich Bajo auf die Suche nach einer guten Stelle zum Schlafen. Eine umgeknickte Buche war schließlich der ideale Platz. Unter dem halb hochstehenden Wurzelkranz befand sich eine Mulde. Diese füllte Bajo mit einigen Blättern, baute mit alten Ästen eine Art Zaun darum und verdeckte diesen mit Buschwerk, das er sich aus der Umgebung zusammensuchte. Durch eine Lücke warf er seine Sachen hinein, schlüpfte selbst hindurch und verschloss den Spalt von innen mit den letzten Ästen, die er noch übrighatte. Sollte jetzt etwas von draußen hereinkommen wollen, könnte Bajo es auf jeden Fall bemerken und das ‚Etwas‘ würde sein Kristallmesser zu spüren bekommen!
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