Jeden Tag fiel Bajo der Gang zur Arbeit schwerer. Auch wenn er eine gewisse Befriedigung durch seine Beschäftigung verspürte, die Freude war längst verloren und Sinnlosigkeit hatte sich breitgemacht.
Ja, alles erschien Bajo in letzter Zeit immer unbedeutender und wertloser. Er hatte alle seine Freunde vernachlässigt und so traf er in seiner freien Zeit kaum noch einen von ihnen. Manchmal erinnerte er sich an Zeiten, in denen er mit ihnen um die Ecken gezogen war, wann er nur konnte. Im Sommer gingen sie am Fluss schwimmen und stellten den Mädchen nach, im Winter zockten sie bis in die Morgenstunden die Karten bei Met und einem Pfeifchen Hennefkraut. Aber irgendwann konnte Bajo keine Freude mehr daran empfinden. Immer dieselben Gespräche, immer dieselben Orte, dieselben Menschen. Weder die Wirkung des Mets noch der Rausch des Hennefs konnten ihn noch euphorisch stimmen. Er zwang es sich nur noch rein, um dabei zu sein, fühlte sich zunehmend schlechter und zog sich deswegen mehr und mehr zurück.
Einsamkeit hielt in Bajos Leben Einzug, obwohl er jeden Tag mit den Leuten sprach und auch seine Tante Nele hatte, an der er sehr hing. Aber all das war nur noch das Abspulen der immer gleichen Floskeln, des immer wiederkehrenden Tuns, wie der Zeiger einer Uhr, der sich unweigerlich gleich im Kreise drehen musste, ohne wirklich voranzukommen und von der Zeit verschlungen wurde.
Bajos Beine waren schwer und er schlurfte mit Mühe Richtung Stadt. Wie viel Kraft hatte ihm das Treiben in Kontoria doch einst gegeben! Als Hauptstadt des Reiches und Umschlagplatz der Waren aus aller Herren Länder war hier immer etwas los. Ob Eisen, Kupfer und Waffen aus Erzingen, Vieh und Pferde aus Thalaria oder Getreide aus Kornburg, alle Waren des Landes wurden hier umgeschlagen. Doch Kontoria hatte seine Handelswege auch in ferne Länder ausgeweitet. So kamen Röstbohnen für Kaffee, Gewürze und Seidenstoffe aus Likien im Osten, Kakao für Schokolade, Farbstoffe und Muschel-Schmuck aus Marabia im Süden, köstliche Sorten Wein, anmutige Kleider, Trockenfisch und Kohle aus Concorsien im Westen und Walfischtran und Felle aus Trihaven, in der Nähe des ewigen Schnees, im Norden. Sämtliche ferne Länder und Städte hatten hier in Kontoria eine Vertretung, denn alle wollten vom Handel profitieren und ihren Einfluss geltend machen.
Die Stadt war voller Kontore und Händler, die Kontoria immer reicher und reicher machten, auch wenn man das in den Straßen nicht wirklich sah. Doch näherte man sich dem Palast, der sich auf einem Hügel am Fluss erhob, konnte man ahnen, welche Schätze sich hinter den Mauern verborgen hielten. Drei steinerne Schutzwälle, einer besser bewacht als der nächste, musste man passieren, um in den wirklichen Palast und Hauptsitz des Landes zu gelangen. Im äußeren Ring residierten die Kontors-Eigner und Reeder in prächtigen Stadthäusern, deren Front vom jeweiligen Banner der Familie geschmückt war. Jede Residenz hatte natürlich Nebengebäude für die Bediensteten und einen herrlichen, begrünten Innenhof. Die Häuser lagen in gebührlichem Abstand zur Mauer an einer Ringstraße den Hügel hinauf, sodass jeder Eigner vom Balkon seines Prunkzimmers aus, einen guten Blick auf das Treiben der Stadt hatte.
Im mittleren Ring, weiter den Hügel hinauf, im Abstand zu einer noch dickeren Mauer, war die Ringstraße der Banker und Geldverleiher. Ihre Häuser waren selbst schon kleine Paläste, über deren Haupttoren jeweils das riesige Wappen der Familie thronte. Selbstverständlich hausten auch hier Heerscharen von Dienern, Zofen, Köchen und Laufburschen sowie Gärtner, die sich um die üppige Bepflanzung der Höfe kümmern mussten.
Hinter einer schier unüberwindlich hohen Mauer und nur noch durch ein Tor erreichbar, lag der eigentliche Palast. Groß und protzig, aber nicht wirklich schön, ragte das Herrscherhaus über dem Drehkreuz der äußeren Welt. Hier nun lebten die hohen Aristokraten, welche aus den wohlhabendsten und einflussreichsten Kontors- und Banker-Familien stammten. Sie stellten die höchsten Würdenträger der Stadt und des Landes, die für Handel und Versorgung, Militär und Ordnung, Stadtwache und Diplomatie zuständig waren und alle als Berater dem Herrscher dienten. Nur die Obersten für die Rechtsprechung hatten ihr eigenes Gebäude in der Stadt und waren unabhängig. Der Herrscher über Kontoria hatte den Titel ‚Kondukt‘. Jemand musste sich durch ‚großartige Taten‘ hervortun, um als Kondukt gewählt zu werden, es war also kein ererbter Titel. Kontoria aber war nur ein Teil von Großmittenreich, welches sich aus den Gebieten Erzingen, Kornburg, Thalaria und eben der Stadt Kontoria zusammensetzte und immer einen König hatte. Der Herrscher über Großmittenreich, also über alle vier Gebiete, wurde mittlerweile auch gewählt und war weiterhin der König, auch wenn man Könige eigentlich nicht wählen kann, aber es erschien allen einfacher, diesen Titel beizubehalten. Die Wahl des Königs von Großmittenreich fand bei einer geheimen Zusammenkunft der höchsten Würdenträger und Aristokraten statt. Zwar konnte auch der Baron von Erzingen, der Lord der Kornburg oder der Fürst von Thalaria zum König gewählt werden, aber meist war es der Kondukt von Kontoria, der das Rennen machte. Die Zusammenkunft für die Wahl erfolgte nur dann, wenn der König starb oder sein Amt freiwillig abgab und wurde im kleinen alten Tempel abgehalten, welcher am höchsten Punkt, im östlichen Teil der Palastanlage, ein sonst recht unbenutztes Dasein fristete. Zwar gab es noch eine alte kirchliche Bruderschaft da oben, aber diese Mönche pflegten ihren Glauben mehr für sich und waren hauptsächlich mit dem Brauen von Met und ihrem Kräutergarten beschäftigt, was natürlich auch den Herrschaften zugutekam.
Ja, die Glaubensmänner, die einst neben dem König herrschten, besaßen keinen Einfluss mehr. Über Jahrhunderte stürzten sie das Land in unzählige Kriege gegen Andersgläubige und unterjochten das murrende Volk, während sie sich selbst, ohne Scham, ihren Genüssen hingaben. Ein mutiger Hauptmann und der Führer der Kaufmannsgilde setzten dem, von einem Tag zum anderen, ein Ende. Der damalige König und die so heiligen Männer des Glaubens endeten auf ihren selbsterschaffenen Schlachtbänken. Nur ein paar abgespaltete Sekten und Bruderschaften, die von je her den armen Menschen dienten, blieben ungeschoren und durften in ihren Klöstern weiterleben.
„Na, viel hat sich eigentlich nicht verändert“, dachte sich Bajo, als er den Palasthügel hinaufsah. Er machte auf seinem Arbeitsweg immer gerne einen kleinen Abstecher zu einer Brücke, die über den großen Graben führte, der den Palasthügel umschloss und lehnte dort für eine kleine Pause am Geländer. „Das Volk muss schuften und ihr da oben macht es euch gemütlich“, sann er weiter. „Wenn ich mal so viel Gold habe, dann…“
„Hey du Lümmel, versperr uns nicht den Weg!“, schrie ihn der Träger einer Sänfte an und schon wurde Bajo so dicht ans Geländer gedrückt, dass er beinahe ins Wasser fiel. „Ihr missgebildeten Kröten, ihr stinkenden Arschkriecher, ihr…“, fing Bajo an zu pöbeln, doch der strenge Blick der Brückenwache ließ ihn seinen Weg lieber wiederaufnehmen. „Ich hasse diese verdammte Stadt! Ich hasse die beschissenen Menschen! Ich hasse mein Leben!“, murmelte er wütend in sich hinein und bog in die ‚Große Straße des Handels‘ ab.
Mit einem Schlag erhöhte sich die Geräuschkulisse um ein Vielfaches. Getrampel, Gewieher und Geschrei brausten auf. Ein Meer aus Transportkutschen, Handkarren und Lastenträgern tat sich auf. Ab und zu ein Zweispänner oder eine herrschaftliche Droschke, die sich auf dem gut gepflasterten Weg einordneten. Am Rand, etwas erhöht, gab es einen ebenfalls gut befestigten Pfad, auf dem nicht so ein Wirrwarr herrschte, aber anscheinend war doch für die meisten Eile geboten. Früher ließ sich Bajo von der Masse förmlich tragen, immer wieder fasziniert von dem riesigen Strom der Waren und Menschen. Mittlerweile war er jedoch froh, wenn dieser Abschnitt seines Weges vorbei war und er am großen Rondell durch die Pforten des Hauptkontors dem Ganzen entfliehen konnte.
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