Sara nahm Anteil an Margrets Schmerz – das war schon allein daran zu erkennen, dass Margret so viel und so lange erzählte. Aber Sara hütete sich, ihr Hoffnungen oder gar irgendwelche Versprechungen zu machen. Das erwies sich als klug, denn gegen Ende des Gesprächs begann Margret zu spekulieren, wie wohl alles gekommen wäre, wenn Ernst noch lebte: Alle Probleme hätten sich im Handumdrehen lösen lassen oder wären erst gar nicht entstanden. Auch die Verabschiedung sei schwierig gewesen. Margret hatte das Gefühl, Sara würde sie im Stich lassen und wollte deshalb das Gespräch überhaupt nicht beenden. Sie bekam erst wieder etwas Boden unter die Füße, als sie begriff, dass Sara über das Gehörte nachdenken und sich bei ihren ehemaligen Kollegen umhören wollte, was denn in einer solchen Situation zu tun sei.
Strickmann war in dieser Situation sehr direkt:
"Und jetzt fragst du mich?"
Sie wurde verlegen, fühlte sich ertappt. Zögernd antwortete sie:
"Ja, jetzt frage ich dich."
"Ich möchte dir die Antwort schuldig bleiben, möchte erst dar über schlafen. Wenn ich soweit bin, melde ich mich."
Sara verabschiedete sich, wollte noch eine Freundin besuchen. Strickmann sträubte sich, dieses Problem überhaupt an sich heranzulassen. Es führt zu nichts, wenn man sich die Probleme der ganzen Welt auf die eigene Schulter lädt. Er genoss die Sonne, den Milchkaffee und das französische croissant . Als er darüber nachdachte, was ihm an dieser Situation das Wichtigste war, fiel ihm sofort eine Antwort ein: nicht losfahren zu müssen, sich zu keiner Fahrt verpflichtet zu haben. Der ganze Tag gehörte ihm, er konnte ihn vertrödeln, konnte in den Lesesaal der Uni gehen, konnte machen, wozu immer er Lust hatte. Beginnen würde er wohl mit dem Vakuum in seinem Kühlschrank, er hatte nicht einmal mehr Milch im Haus. Gleich hinter der Schweizer Grenze gab es in Riehen einen Supermarkt, der auch sonn- und feiertags geöffnet hatte – ein Segen für jemanden wie ihn. Von dort wäre es nur noch ein Katzensprung bis zur Fondation Beyeler 6 , wo er schon länger nicht mehr gewesen war.
Zu Hause wartete ein interessanter Auftrag auf ihn. Schon allein die Tatsache, dass in einer Weinhandlung jemand am Sonntag arbeitete, war außergewöhnlich. Durch einen Rückruf erfuhr er, dass ein Großhändler in Freiburg bis Mittwoch früh eine Weinprobe aus Saint Émilion bei Bordeaux benötigte. Strickmann hatte den Eindruck, dass eine Lieferung fehlgeleitet worden war und sich jetzt ein paar Flaschen Wein in einem Zug nach Moskau oder sonst wohin befanden. Er vereinbarte den üblichen Preis, allerdings mit einer hohen Erfolgsprämie. Nachdem er die Verkehrsverbindungen recherchiert hatte, übernahm er den Auftrag und buchte einen Flug.
Es blieben ihm noch gut drei Stunden bis zum Check-in am Flughafen Basel-Mulhouse. Bisher hatte er alle Fahrten per Auto oder Motorrad erledigt, es war das erste Mal, dass er dazu einen Flieger benutzen würde. Er hatte auch noch nie etwas abgeholt.
Für ihn war es selbstverständlich, dass es etwas wegzubringen galt. Und dass diese Weinhandlung ausgerechnet ihn angerufen hatte, war natürlich ein Indiz für die Qualität seiner Arbeit: Geschwindigkeit und Zuverlässigkeit – so langsam sprach sich das wohl herum. Es gab ihm ein gutes Gefühl, obwohl er genau wusste, dass diese Wein-Sekretärin sich genauso gut nur durch die Gelben Seiten telefoniert haben konnte ohne die geringste Ahnung, mit wem sie da in Kontakt trat.
Er rief Sara an, fragte, ob sie mitkommen wolle. Nach einer solchen Tour würde er viel mehr über sie wissen: Was sie unter ein bisschen Französisch verstand, ob sie sich in einer fremden Großstadt wie Bordeaux orientieren, wie gut sie selbstständig agieren konnte. Das wären harte Informationen, wie sie durch kein noch so intensives Gespräch zu erhalten gewesen wären. Sie war gleichzeitig überrascht und erfreut, begriff sofort, was für eine Chance sich ihr da bot. Nachdem er ihr die Einzelheiten erklärt hatte, stutzte sie:
"Du willst auf dem Rückweg ein paar Flaschen Wein in den Flieger mitnehmen?"
"Ja. Jeder drei Flaschen – das geht sogar noch als Handgepäck."
"Und was sagt die Security dazu?"
Daran hatte er nicht gedacht:
"Ich kläre das. Zur Not fahren wir mit dem Zug zurück."
Sie trafen sich am Schweizer Bahnhof in Basel, Sara trug Jeans, die nicht zerschlissen waren. Von Strickmanns Vorschlag, im Flieger das Gespräch mit Margret zu analysieren, hielt sie allerdings nicht viel. Sie war schon lange nicht mehr geflogen, wollte deshalb lieber die Abläufe auf dem Flughafen bewusst registrieren und die Situation im Flugzeug genießen. Auf dem Rückflug wäre immer noch genug Zeit dafür.
In Bordeaux kaufte sie noch am Flughafen einen Stadtplan. Strickmann kannte sich nicht aus oder tat zumindest so:
"Weißt du, wo das ist, dieses Saint Émilion?"
"Nein. Du hast gesagt, ich könne mitgehen. Das ist doch etwas anderes als selbstständig eine Fahrt zu unternehmen. Außerdem habe ich nicht mehr viel Zeit gehabt."
Er gab ihr einen Zettel mit der Adresse:
"Es ist ein legendäres Weindorf aus dem 8. Jahrhundert, hat 2.000 Einwohner und liegt ungefähr 40 Kilometer östlich der Stadt. Mehr weiß ich auch nicht, ich war noch nie da."
Am Weingut wartete wie telefonisch vereinbart ein Mitarbeiter auf sie und präsentierte ihnen stolz die Weinprobe, in einer Holzkiste stoßsicher verpackt. Es war für Sara etwas mühsam, bis er verstanden hatte, dass die Flaschen unverpackt sein sollten, weil sie sie als Handgepäck in das Flugzeug mitnehmen wollten. Wahrscheinlich hatte der Mann sie selbst vorbereitet, denn jeder einzelne Nagel, den er wieder entfernen musste, tat ihm sichtlich weh. Als er sah, wie sie die Flaschen nachlässig in Plastiktüten verstaute, wurde er nervös und bat um einen Moment Geduld, er wolle schnell einen film à bulles holen.
"Was soll das denn sein, ein Bullenfilm ?"
"Nur Geduld. Auf Deutsch heißt das Noppenfolie . Er nimmt seine Arbeit wichtig."
Als er endlich zurück war, brachte er eine ganze Rolle mit und fühlte sich zu einer Erklärung verpflichtet:
"Jede dieser Flaschen kostet mehr als 1.000 Euro. Da wäre es nicht gut, wenn unterwegs eine beschädigt würde."
Sara war beeindruckt und zeigte das auch ganz offen. Die Verabschiedung war dann auch eine ziemlich fröhliche Angelegenheit, bei der Sara mehrmals beteuerte, dass es nun genau so sei, wie sie es für den Transport benötigten. Um ein Haar hätte sie vergessen, den Empfang der Warenprobe zu quittieren.
Sie beschlossen, sofort zum Flughafen zurückzufahren, obwohl es noch über fünf Stunden waren bis zum Check-in. So würde ihnen genügend Zeit bleiben, in Ruhe etwas zu essen, sich mit der Security auseinanderzusetzen oder sogar noch in ein Hotel zu gehen und etwas zu schlafen.
Nachdem sich die Beamten an der Sicherheitskontrolle die Verschlüsse der Weinflaschen genau angesehen hatten, erhielt Sara von einem von ihnen einen Hinweis darauf, welcher der sechs Weine der beste sei und sie konnten anstandslos passieren. Im Restaurant übersetzte ihr Strickmann ein paar Gerichte auf der Speisekarte und entschied sich für eine Scheibe tête de veau 7. Sie verzog das Gesicht, meinte, das sei nicht gerade das, was sie gewohnt sei, und blieb bei dem, was sie kannte: Steak mit pommes frites und Salat . Danach war noch Zeit für eine Analyse von Saras Gespräch mit Margret:
"Wie siehst du denn ihre Situation?"
"Sie ist eine gebrochene Frau, hat nun mit ihrem Sohn ihren Lebensinhalt verloren. Wofür soll sie jetzt leben? Deswegen taucht an ihrem Horizont nun ihre Tochter auf, für die sie sich bisher nicht interessiert hat. Es ist der Versuch, ihre bisherigen Lebensumstände beizubehalten, indem sie einfach ihren Sohn durch ihre Tochter ersetzt."
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