"Und?"
"Die meisten waren mit einem Virus infiziert. Darauf stürzen sie sich jetzt: Vielleicht haben ihre Vorfahren den obersten Gott übers Ohr gehauen, indem sie Kinder opferten, die schon tot waren. Als die Römer eine Generation später Karthago wiederaufbauten, bezogen sie ihr Trinkwasser auf jeden Fall nicht aus den alten Leitungen, sondern bauten eine komplett neue Wasserversorgung auf. Warum wohl?"
"Und sonst?"
Noch bevor er antworten konnte, stoppte die Wirtin die Hintergrundmusik und die Atmosphäre änderte sich. Ab jetzt spielten sie Leonard Cohens Closing Time in einer Endlosschleife als Zeichen dafür, dass sie Feierabend machen wollten.
Strickmann musste bei diesem Lied sofort an den Videoclip denken, mit dem er es zum ersten Mal gehört hatte: Eine Szene in einer In-Bar mit blasiertem Publikum. Es ist spät abends, die Gäste gieren nach Leben, Liebe und nackter Haut, gerade entscheidet sich, wer mit wem nach Hause geht. Jetzt kommt es darauf an, sich in Szene zu setzen, sich von seiner besten Seite zu zeigen und wenn es nur durch verquere Übersprungshandlungen ist. Schwebende Körper symbolisieren die imaginäre Freiheit von den Gesetzen der Schwerkraft, stehen für die Leichtigkeit, mit der man und frau durchs Leben gehen, nur dem Jetzt lebend und schon ein Morgen gibt es nicht; aber es gibt frische Wunden, Überbleibsel aus dem täglichen Kampf um die oberen Plätze, umfunktioniert zu Wunden des Helden; niemand tanzt, die Musik dient nur dazu, eine bestimmte Atmosphäre zu schaffen; Tanzen würde bedeuten, sich auf jemanden zu beziehen, sich auf jemanden einzulassen; der exzessive Genuss von harten Drinks und Nikotin soll ein Gefühl der Überlegenheit signalisieren, kann aber den Überdruss an Leere und Langeweile nicht überdecken.
Der Abend war vorbei. Es roch jetzt nach Aufbruch, letzte Bestellungen gab es hier nicht. Die Wirtin kassierte und überall wurden Geldbörsen gezückt, Jacken angezogen, Stühle gerückt.
Die Toilette war stark frequentiert, erste Gruppen oder Pärchen verließen die Kneipe ziemlich schnell. Strickmann bezahlte für beide und sie gingen gemeinsam los.
Sara wohnte ein paar Häuser um die Ecke, ganz in der Nähe ihrer ehemaligen Wohnung, und als sie bei ihr ankamen, fragte sie ihn, ob er noch auf einen Kaffee mit hochkommen wolle. Er lehnte ab, sei ziemlich müde und zum Zeichen, dass das nicht persönlich gemeint war, lud er sie für den nächsten Morgen zu sich zum Frühstück ein.
Immerhin brachte ihn diese Situation auf die Idee, bei Cristina anzurufen. Seit einiger Zeit lebten sie eine Freundschaft plus, was beide als sehr angenehm empfanden. Sie war eine Kollegin, die sich auf Italien spezialisiert hatte. Zu seiner Überraschung war sie zu Hause und hatte Zeit und Lust, ihn zu sehen. Strickmann verbrachte die Nacht bei ihr und fand morgens Sara auf der Schwelle seiner Haustür, eingeschlafen. Auf den ersten Blick konnte er sehen, dass sie ein frisches T-Shirt angezogen und ihre Haare gewaschen hatte. Er schlich sich davon, um das Frühstück einzukaufen. Als er mit zwei vollen Papiertüten zurückkam, schlief sie zwar immer noch, wurde aber sofort wach, als er den Schlüssel im Schloss drehte. Sie nahm ihm eine Tüte ab und war erstaunt, dass man durch die Haustür sofort in die Küche kam.
Strickmann wandte sich dem Frühstück zu:
"Was trinkst du morgens?"
Es brauchte nur ein paar Handgriffe. Er brühte mit seiner alten Cafetera Kaffee auf, Sara deckte den Tisch und packte die Lebensmittel aus. Als sie nichts mehr zu tun hatte, begann sie, das herumstehende schmutzige Geschirr abzuwaschen:
"Sag mal, hast du vorgestern nicht gesagt, du seist ziemlich müde?"
"Ja, hab' ich. Aber du hast mich auf eine Idee gebracht und ich hab's mir anders überlegt."
"Ach so."
Es klang enttäuscht.
"Kommst du frühstücken? Und wenn wir schon beim Fragen sind: Gestern Abend fiel mir deine Beobachtungsgabe auf. Wo hast du das denn gelernt?"
"Ich habe in verschiedenen Detekteien gearbeitet, da lernt man das zwangsläufig."
Strickmann goss Kaffee ein und forderte sie auf sich zu bedienen. Sara griff zu, vor allem der französische Käse und die Bananen hatten es ihr angetan. Aber sie hörte nicht auf zu erzählen:
"Meine Arbeit als Mechatronikerin hat mich bald gelangweilt, das ist ein seelenloses Geschäft. Ich bin dann bei den privaten Ermittlern eingestiegen, habe bei einer Security-Firma als Kaufhausdetektivin angefangen. Danach kamen die Aufträge eifersüchtiger Ehefrauen. Das war hart, ich weiß nicht, wie viele Stunden ich in PKW oder hinter Bäumen gewartet habe. Da wird man leicht zur Kettenraucherin. Immerhin habe ich dabei gelernt, mit Kameras umzugehen, habe auch an internen Schulungen teilgenommen.
"Und die Bezahlung, war die o.k.?"
"Das weiß ich nicht mehr, das hat mich damals nicht sehr interessiert. Hauptsache, ich konnte etwas lernen und Praxis bekommen. So richtig spannend wurde es, als die Grundlagen vermittelt wurden: Abhören, Fahrzeuge verfolgen oder Personen ermitteln.
Am meisten interessierte mich alles, was mit Elektronik zu tun hatte."
"Auch Schlösser öffnen, schießen, juristische Grundlagen?"
"Schießen nicht – wie du weißt, tragen Privatdetektive keine Waffen. Zum Schluss kam schließlich das Organisatorische, da arbeitete ich in der Zentrale. Auch dabei habe ich viel gelernt, vor allem zu koordinieren und vom Ganzen her zu denken. Aber das spielt jetzt alles keine Rolle mehr, diese Zeiten sind vorbei. Warum hast du eigentlich die letzte Nacht mit jemand anderem verbracht?"
"Dir ging es im Nellie nicht besonders gut und du hast dich auf ein Gespräch mit mir eingelassen. Da geht es doch nicht, dass ich die Nähe ausnutze, die dadurch entsteht. Was, wenn du dich heute Morgen schlecht gefühlt hättest deswegen?"
"Und was, wenn ich mich jetzt schlecht fühlen würde gerade deswegen? Kann man nur Sex haben, wenn es einem gut geht? Nicht zum Trost, nicht um zu fühlen, dass da noch jemand ist?"
"Doch, natürlich. Aber ich finde, dafür muss man gut aufeinander eingespielt sein."
Damit änderte sich die Atmosphäre. Sara empfand Strickmanns Äußerung als abgrenzend und beschloss sich zu verabschieden:
"Ist es in Ordnung, wenn ich beim Abräumen nicht helfe?"
"Natürlich, du warst mein Gast. Gehst du nachher zu deiner Ex-Schwiegermutter?"
"Ich glaube ja. Ich will aber erst noch zu mir. Was machst du heute außer schlafen?"
"Ich muss noch etwas in Basel erledigen. Und meine nächsten Fahrten organisieren."
"Denkst du an mich?"
"Ja, klar. Ich komme dann auf dich zu."
Bevor Strickmann sich gut ausgeschlafen nach Basel aufmachte, wollte er noch schnell den Film vom Untergang des Weidlings auf einen USB-Stick kopieren. Damit wäre sichergestellt, dass nichts verloren gehen würde. Aber er konnte sein Handy nirgends finden. Als er keine Idee mehr hatte, wo er suchen könnte, rief er Cristina an in der Hoffnung, es bei ihr vergessen zu haben. Aber sie war schon wieder Richtung Italien unterwegs und konnte ihm deswegen nicht helfen. Er hinterließ ihr eine kurze Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter, würde sich aber ein oder zwei Tage gedulden müssen, bis sie zurück war.
Er fuhr trotzdem nach Basel, wollte die Strömungsgeschwindigkeit des Flusses messen und nach einem leeren Bootliegeplatz suchen. Diese Weidlinge bestehen aus Bohlen, die an Heck und Bug nach oben gezogen und durch Spanten verstärkt werden. Früher wurden sie von Fischern benutzt um die Netze auszubringen. Ihre Vorwärtsbewegung geschieht durch Stakstangen, mit denen sich die Pontoniere 5vom Boden abstoßen, oder mit Hilfe von Stehpaddeln.
Unterwegs überlegte er, ob er eine Expressfahrt annehmen sollte. Eine Spedition wollte Frachtpapiere im Original nach Lyon schicken, er wäre schon am nächsten Vormittag wieder zurück. Aber er entschied sich dagegen, weil er wusste, dass die Fahrer auf der ganzen Welt genau mit diesem Mechanismus ihren Schlaf-wach-Rhythmus ruinierten: Immer noch eine Kleinigkeit obendrauf, immer noch einmal den Schlaf hinauszögern, zur Not immer noch einmal eine Hallo Wach einwerfen. Wenn sein Kunde auf der sofortigen Abfahrt bestand, musste er sich eben einen anderen Kurierdienst suchen. Andernfalls konnte er am nächsten Morgen losfahren. Das Büro der Spedition in Lyon war schon sehr früh besetzt, er konnte also bei Tagesanbruch starten und abends wieder zurück sein. Der Kunde war nicht erfreut über die Verzögerung, beauftragte ihn aber trotzdem mit der Fahrt.
Читать дальше