Während er immer wieder mit deutlichem Widerwillen große Schlucke Rum hinunterwürgte, las er noch einmal den Text durch, den er zu Hause auf ein Blatt Papier geschrieben hatte. Schließlich setzte er das Datum und seinen Namen darunter und versuchte, das Blatt zu den anderen Papieren in eine Prospekthülle zu schieben. Das gelang ihm nicht sofort – er hatte den ganzen Tag nichts gegessen und der Alkohol wirkte bereits. Nun steckte er die Plastikhülle zusammen mit seinem Ausweis in eine Innentasche seiner Jacke, nahm eine der dünnwandigen Glasflaschen aus dem Rucksack und stellte sie griffbereit auf die Umfassungsmauer. Nachdem er seine Jacke ausgezogen, sorgfältig zusammengefaltet und ebenfalls auf die Mauer gelegt hatte, schulterte er den Rucksack vor seiner Brust, öffnete den Reißverschluss ein bisschen und übergoss sich mit der bräunlichen Flüssigkeit aus der Flasche. Noch ein letzter Blick nach Westen, wo sich in der Weite ein wolkenverhangener Horizont erstreckte. Nach kurzem Zögern überwand er das Fenstergitter, riss ein Streichholz an und sprang mit einem Schrei als lebende Fackel ins Nichts. Beim Aufprall unten auf den Steinen zerbarsten die Glasbehälter in seinem Rucksack. Das Benzin darin tränkte seine Kleidung und spritzte in alle Richtungen. Der entstehende Feuerball und die damit verbundene Explosion waren so gewaltig, dass nicht nur die inzwischen eingetroffenen Sicherheitsleute aufmerksam wurden, sondern selbst die Partygäste im angrenzenden Wohngebiet Verdacht schöpften und Alarm schlugen. Aber der enorme Aufwand von Polizei und Feuerwehr kam zu spät: Dass das Feuer schnell gelöscht werden konnte, spielte keine Rolle mehr, der Mann war bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Der niedergehende Regen löschte die letzten Glutreste, der Rettungswagen fuhr ohne Blaulicht zurück, leer.
Als Strickmann nach ein paar Stunden Schlaf kurz nach Mitternacht ins Nellie Nashorn kommt, spielt kein Kind mehr im großen Sandkasten vor dem Haus, die beiden hölzernen Nashörner stehen einsam in der Nacht, groß und massig, wissen nicht, wen sie bewachen sollen.
Das Nellie ist eine der wenigen Szenekneipen in Lörrach. Betrieben wird sie von einem iranischen Paar, das schon seit 20 Jahren in der Stadt lebt und gut Deutsch spricht. Es ist Teil eines Kulturzentrums mit einem Theater und einem Freien Kino in einer Gruppe von Fachwerkhäusern, deren dunkelbraune Balken mit roten Backsteinen ausgemauert sind. Die Vorstellungen sind um diese Nachtzeit längst vorbei und es würde kein Problem sein, einen freien Sitzplatz zu finden. Auf den ersten Blick ist alles wie immer.
Im Innern hängt über der Eingangstür der überlebensgroße Kopf eines Nashorns aus Pappmaché, wuchtig, bedrohlich, überzogen mit einer goldenen Rettungsfolie. Als Strickmann ihn zum ersten Mal sah, erinnerte er ihn sofort an Ionescos Nashörner , Symbol für eine alles überrollende Gewalt, die plötzlich aus dem Nichts auftaucht, der man hilflos ausgeliefert ist. Gerade jetzt kann er solche aggressiven Assoziationen nicht vermeiden: Vor ein paar Stunden war auch über die Frau im Weidling eine solche Welle der Gewalt hinweggefegt und hatte sie das Leben gekostet.
Die Gäste sitzen an zwei Dutzend kleiner Tische auf einfachen Holzstühlen und reden miteinander. Man hört Geschichten, Gelächter, Geklapper von Geschirr. Im Winter spielen tagsüber Kinder mit Bauklötzen oder Eltern lesen ihnen vor, im Sommer sind sie draußen im Sandkasten. Manche Stammgäste haben eigene Sitzkissen mitgebracht. Nirgendwo in der Stadt kann man mehr selbstgestrickte Kleidung sehen, lila Latzhosen oder Rastalocken. Die Wände leuchten in Anthroposophengelb, der Fußboden besteht aus alten Bohlen, durch die vielen Gäste im Laufe der Jahre längst blank gescheuert. Gegenüber dem Eingang steht ein kleiner Tisch mit schwarzen Thermoskannen für Kaffee und heißes Wasser, dazu verschiedene Sorten Teeblätter in silberfarbenen Büchsen: Pai Mu Tan oder Vervenne, die Strickmann nicht einmal dem Namen nach kennt, oder südafrikanischer Rooibos, durch Fermentierung rot gefärbt und koffeinfrei. Hier stehen sie zusammen mit einem Schild, dass diese Getränke nicht berechnet würden und man so viel trinken dürfe, wie man möchte. Natürlich gibt es auch Besteck, Tassen und Teeschalen, frische Milch vom Bauern. Die Spielzeugkiste am Boden daneben ist zu dieser Tageszeit randvoll und unberührt. Im Wandregal darüber liegen mehrere Tageszeitungen aus sowie die gängigen alternativen Blättchen. Über allem thronen eine alte Bahnhofsuhr, die immer eine gute Viertelstunde vorgeht, und ein Kronleuchter, an dem einige Tropfen aus Glas fehlen und die eine oder andere Kerze schräg steht. Ebenfalls unverzichtbar ist die Hintergrundmusik. Das Programm wird am Schwarzen Brett ausgehängt und manche Gäste kommen nur deswegen. Sie wollen wieder einmal zusammen mit Freunden Jazz hören oder Songs aus ihrer Jugendzeit, auch einzelne Interpreten, die im Radio nicht so oft gespielt werden. An diesem Tag gab es Folk: die naivpathetische Joan Baez, Peter, Paul and Mary, und Donovan versuchte immer noch, den Wind einzufangen 3.
Trotzdem fühlt sich Strickmann hier wohl, wenn es auch einen Umstand gibt, der ihn immer wieder nachdenklich werden lässt: Alle Gäste kommen mit Freunden, wer allein da ist, wartet auf jemanden, mit dem er sich verabredet hat. Strickmann kennt zwar die meisten und viele kennen ihn, aber er fühlt sich keiner Gruppe zugehörig. Oft ist er ganz froh darüber, aber es gibt auch Situationen, in denen seine Einsamkeit bedrückend wird und seine Brust eng.
Nachdem er am Tresen sein Bier bekommen hat, spricht ihn eine sorgfältig zurechtgemachte Frau an, sie habe einen Job für ihn. Er lehnt ab und als sie sich nicht abwendet, wird er laut. Dadurch fühlen sich die Gäste gestört und sofort drehen sich einige Köpfe in seine Richtung. Das genügt und die Frau verschwindet. Dann sieht er Sara, eine frühere Nachbarin, allein an einem Tisch. Sie sieht nicht gut aus, hat ein paar Kilogramm abgenommen und wirkt jetzt extrem schlank, fast schon schmächtig, zu dünn für eine Frau von Ende 20. Ihre Jeans sind zerschlissen, die blonden Haare strähnig und fettig. An manchen Fingern ist der rote Nagellack abgesplittert, ihr T-Shirt ist zwar sauber, aber zerknittert und am Hals ausgeleiert. Strickmann ist überrascht: also doch nicht alles wie immer. Er nimmt sein Bier und geht zu ihr hinüber:
"Darf ich mich zu dir setzen?"
Sie antwortet seltsam abwesend:
"Der Stuhl ist frei."
Ihre Stimme ist schwach, unsicher. Strickmann überlegt, ob er sie nicht lieber in Ruhe lassen soll:
"Kannst du dich nicht mehr an mich erinnern?"
"Sehr originell, deine Anmache."
Ihre Aggressivität überrascht ihn.
"Entschuldigung. Bist du nicht die Sara?"
"Warum? Müsste ich dich kennen?"
"Du hast mir damals dein Auto ausgeliehen, wir haben nebeneinander gewohnt. Ist allerdings schon eine Weile her. Und jetzt siehst du aus, wie wenn etwas schiefgelaufen wäre. Vielleicht kann ich dir ja jetzt mein Auto leihen."
"Stimmt, ich erinnere mich dunkel. Waren wir nicht sogar Nachbarn? Leider ist mir der Schlitten bald darauf geklaut worden."
"Und?"
"Futsch natürlich. Sie haben ihn nicht gefunden. Wie jemand so eine alte Karre klauen kann!"
Strickmann setzte sich, machte aber keine Anstalten, das Gespräch aufzunehmen. Sara wurde verlegen:
"Du hast ja recht, es ist mir schon besser gegangen."
Schließlich meinte sie zögernd:
"Es fällt mir schwer."
"Ich hab's nicht eilig."
"Und warum willst du dir meinen trouble anhören?"
"Das ist mein Auto für dich."
Sie wirkte erleichtert, entspannte sich etwas:
"Vielleicht nicht schlecht, dein Auto."
Ein Dicker mit einem Aktenköfferchen kam auf Strickmann zu. Sein geschniegelter Anzug, die blitzenden Manschettenknöpfe und die seidenglänzende Krawatte wollten nicht so richtig in diese Kneipe passen.
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