„Eh … gut. Weshalb?“ Sofort war Dietmar Schönherr wieder verunsichert.
„Ich habe manchmal den Eindruck, dass Sie sich sehr zurückhalten; obwohl Sie doch, laut Ihrer Personalakte, ein guter Ermittler sind.“
„Ich bin erst seit kurzer Zeit hier und möchte mich nicht allzu direkt in den Vordergrund drängen“, gab Dietmar Schönherr offen zu.
Nicole nickte. „Es stimmt, Harald und Lars – und auch ich –, wir sind ein eingespieltes Team.“
Sie lächelte dem neuen Kollegen aufmunternd zu.
„Spielen Sie einfach mit.“
„Danke, dass Sie so kurzfristig Zeit für mich haben.“
Philipp wischte über seine feuchte Stirn.
„Sie klangen sehr aufgewühlt. Was ist passiert, Philipp?“, fragte Dr. Claudia Scherer mit sanfter Stimme. In ihren grünblauen Augen lag ein Ausdruck zwischen Faszination, Sorge und … Vergnügen.
„Es ist … sie sind …“, stotterte Philipp. „Die schrecklichen Bilder, verstehen Sie. Alles war in Ordnung – und nun. Dr. Mehlhorn. Er ist … genau an derselben Stelle und genau auf den Tag. Heute ist der 1. Juni. Verstehen Sie?“ Hilfesuchend sah er die Ärztin an.
„Beruhigen Sie sich. Ich habe es Ihnen schon so oft gesagt. Es hat nichts mit Ihnen zu tun. Dr. Mehlhorn konnte mit der Schuld nicht mehr leben. Mit dem was er Ihnen und den Leuten angetan hatte, die ihm vertrauten. Darüber haben wir doch schon so oft gesprochen.“
„Ich weiß“, entgegnete Philipp, schärfer als beabsichtigt. „Dennoch habe ich das alles heute Nacht – nein, es war heute Morgen, kurz bevor ich aufwachte, wieder gesehen und – es war so realistisch. So, als hätte ich einen Augenblick zuvor noch auf dem Dach gestanden. Weshalb komme ich davon nicht los?“
Philipp senkte seinen Kopf. „Außerdem … kann ich mich nicht erinnern, was ich gestern Nacht zwischen 11 Uhr und halb eins gemacht habe. Mir fehlen eineinhalb Stunden!“, murmelte er. „Und, ich hatte noch einen anderen … einen ganz schrecklichen Traum.“
Stockend erzählte Philipp von der toten Frau in der schmalen Gasse. „Das alles macht mir Angst. Was passiert mit mir?“
Dr. Claudia Scherer stand auf, nahm zwei Gläser vom Beistelltisch und schenkte sich und Philipp Wasser aus einer Glaskaraffe ein.
Philipp konnte nicht umhin ihre grazilen Bewegungen, selbst bei dieser profanen Tätigkeit, zu bewundern. Einen Moment lang dachte er an Stella, die Inhaberin des italienischen Restaurants und hatte sofort ein schlechtes Gewissen. Es fühlte sich an, als hätte er Claudia betrogen.
Mit zitternden Händen führte er das Glas an seine Lippen, trank einen Schluck und stellte es auf dem Glastisch ab.
„Bitte, helfen Sie mir.“
Die Ärztin lächelte. Sie setzte sich neben ihn auf die Couch. Er spürte ihre Hand auf seinem Arm und roch diesen herrlichen Duft, der von ihr ausging. Er hob den Kopf. Ihr Gesicht war seinem so nahe, dass er sah, wie ihre Lippen leicht bebten.
„Schauen Sie mir in die Augen.“
Nichts lieber als das , dachte Philipp und verlor sich augenblicklich in diese strahlenden Augen, deren Iris von einem fast tiefen blau umrandet waren, während die Pupille selbst grünlich erschien.
„Jetzt atmen Sie tief ein und aus. Tief ein- und ausatmen“, hörte er ihre Stimme und tat, was sie verlangte.
„Philipp! Philipp! Wachen Sie auf.“
Philipp schlug die Augen auf. „Bin ich etwa ...?“
„Nur für ein paar Minuten.“ Die Ärztin reichte ihm die Hand und half ihm aufzustehen.
„Wie geht es Ihnen?“
„Gut“, antwortete Philipp. Tatsächlich fühlte er sich ruhig und ausgeruht. Alle Nervosität war verschwunden.
„Was ein Minutenschlaf doch ausmachen kann.“ Claudia Scherer lächelte. „Jetzt muss ich mich aber um meine anderen Patienten kümmern.“
Philipp nickte. Die Ärztin reichte ihm die Hand und begleitete ihn zur Tür.
Ein hektisches Schnaufen war alles, was Helene hörte, als sie den Hörer abnahm, weshalb sie ziemlich barsch fragte: „Was soll das? Wer ist da?“
„Na ich. Siehst du das nicht auf deinem Display?“, rief Gundel, noch immer atemlos, nun aber verständlicher.
Normalerweise hätte Helene gesehen, wer anruft, wäre ihr vor einigen Tagen nicht dieses Missgeschick passiert.
Aus Versehen hatte sie, anstatt die Liste der eingegangenen Anrufer zu löschen, die Liste der Freunde und Bekannten gelöscht. Nach und nach war es ihr gelungen, alle Nummern wieder einzuspeichern, die wichtig waren – Gundula Krämers Telefonnummer war noch nicht darunter. Das jedoch wollte sie ihr nicht unbedingt auf die Nase binden.
Stattdessen sagte sie: „Wir haben momentan einige Schwierigkeiten mit unserem Telefon. Was gibt es denn so Wichtiges?“
„Habt ihr schon gehört?“ Gundula Krämer hatte zwischenzeitlich ihren normalen Atemrhythmus wiedererlangt. Am „Roten Brünnchen“ wurde eine Leiche gefunden.“
„Was? Wann? Woher weißt du …? Herbert kommst du mal?“, rief Helene.
Herbert saß gemütlich am Frühstückstisch und blätterte in der Zeitung, die er beim Bäcker, mitsamt Brötchen erstanden hatte.
„Herbert!“ Helenes Stimme wurde lauter und eindringlicher. „Nu mach man hin.“
„Was ist denn los? Is was passiert?“, kam Herberts Gegenfrage aus der Küche und er alsdann hinterher.
„Die Gundel ist dran. Eine Leiche … am „Roten Brünnchen.“
Herbert verdrehte die Augen, sprang aber gleichzeitig auf und kam mit seinem Ohr dicht an Helenes Wange, die hatte aber gerade die Mithörtaste betätigt, sodass er jetzt Stereo hörte.
„Weißt du Näheres?“, fragte Helene ins Telefon.
„Es soll sich um Marina Leistner handeln. Sehen konnte ich nichts Genaues. Die Polizei hatte die Gasse um das „Rote Brünnchen“ herum großzügig abgesperrt und die vielen Gaffer haben mir die Sicht versperrt.
„Und woher willst du wissen, dass die Tote die Marina Leistner ist?“
„Ja, weil die Therese Hoffmann es mir erzählte. Die stand in dem engen Winkel zwischen den Häusern – du weißt schon, das steile Gässchen, das vom „Roten Brunnen“ zur Kleinen Maingasse hochgeht – und schaute sich den Trubel direkt aus der Nähe an. Außerdem wohnt die doch direkt gegenüber von den Leistners. Sie wusste, dass Frau Leistner gestern Abend, in ihrem hellblauen Jogginganzug, aus dem Haus kam, so wie fast jeden Abend. Sie dreht immer so um 11 Uhr ihre Runde, sagte die Therese; so eine halbe bis Dreiviertelstunde. Aber, gestern hätte sie sie nicht zurückkommen gesehen – auch nicht nach einer Stunde; das wäre unüblich gewesen.“
„Die weiß ja schon e ganze Menge“, murmelte Herbert neben Helene.
„Was?“, fragte Gundel.
„Ach nichts“, wiegelte Helene ab. „Danke, dass du uns informiert hast.“
„Ich kann die Therese nochmals besuchen. Vielleicht ist ihr zwischenzeitlich noch etwas eingefallen“, bot Gundel sich an.
„Ja mach das. Du weißt, jede Kleinigkeit ist wichtig.“
„Okidoki“, ließ Gundel noch verlauten und legte auf.
„Jetzt hast du die aber werklich spitz gemacht“, nörgelte Herbert verdrossen. „Glaub’s mir, die steht jetzt alle paar Minute bei uns auf de Matte.“
Statt einer Antwort breitete sich auf Helenes Gesicht ein undefinierbares Leuchten aus. „Ich glaube, wir haben einen neuen Fall. Meinst du Bettina und Ferdi hätten Lust, mit uns zu ermitteln?“
„Zur Wohnadresse des Opfers, oder schauen wir uns zuerst den Tatort an?“, fragte Harald, nachdem er in der Großen Maingasse, direkt an der Kirchenmauer einen Parkplatz gefunden hatte. „Beides liegt dicht beieinander.“
„Lass uns zuerst den Ehemann befragen“, schlug Lars vor.
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