Nach einiger Zeit ist dieser völlig genervt (klar, wer wäre das nicht?), und seine Mitspieler merken das. Sie beziehen ihn teilweise nicht mehr ein in das Spiel, bringen allein aber auch nichts Gescheites zu Stande. Deren Trainer guckt sich das nun nicht länger an und nimmt seinen Spielmacher vom Platz.
Und die Moral von der Geschicht: mein Bruder läuft und kickt da draußen auf dem Rasen rum (als sein Gegenspieler draußen war, durfte er mit nach vorne stürmen!), während ich hier sitze und dem Spiel zugucke. Gewonnen haben wir natürlich nicht, und das Siegertreppchen des Turniers musste ohne uns auskommen. Aber wir waren eines der wenigen Teams, und vielleicht das einzige, gegen das der Zehner nicht nur kein Tor gemacht, sondern auch keines vorbereitet hat. Mein Bruder hat sich gefreut, und später hat mein Vater ihn trainiert - so kam er zum Fußball. Und ich? Ja, ich hatte meine Lektion gelernt. Denn es gibt einen Lernbedarf.
Als ich nach einiger Zeit zurück vom Ego-Trip war, ging das Leben weiter. Mit Fußball war bei mir dann bald Schluss, in sportlicher Hinsicht waren jetzt Tischtennis und Judo angesagt. Vor allem letzteres war wichtig, denn in der Schule gab es die ersten Grabenkämpfe. Die Jungs waren im besten Testosteron-Alter, und nachdem ich einige Niederlagen einstecken musste, kniete ich mich tiefer rein in den Bereich des Kampfsports. Bald fing ich auch mit Bodybuilding an, in meinem Zimmer lagerten Lang- und Kurzhantelstangen, sowie verschiedene Gewichte. Auch ein Buch, in dem entsprechende Übungen gezeigt wurden, hatte ich mir gekauft. Nach Meinung des ersten Mr. Germany, Reinhard Smolana, der zwei Jahrzehnte nach diesem Triumph zum Mr. Germany over forty gekürt wurde, gehört zum Bodybuildung neben dem Training die richtige Ernährung. Dieser bemisst er sogar eine größere Bedeutung bei als dem Training: 60 zu 40. Also stellte ich auch die Ernährung entsprechend um, alles für den Muskelaufbau. Nun, dem Thema Essen werden wir später noch begegnen, für jetzt sei hervorgehoben, dass ich intensiv ins Bodybuilding einstieg, die Schule mutierte zur Randerscheinung. Die Pubertät ist eben nicht umsonst von Eltern und Lehrern gefürchtet.
Wie stellte Franz Beckenbauer dereinst fest: »Heute weiß ich, daß ich mich damals falsch verhalten habe. Aber es war die Zeit, die man »Flegeljahre« nennt. Da kommt man sich schlauer vor als alle Erwachsenen und tut die unmöglichsten Dinge, um sich selbst bestätigt zu sehen.«
Auch ich hatte nun die Phase der Flegeljahre erwischt. Doch das war nicht weiter schlimm, denn das Prinzip war doch völlig klar: Im Laufe der Evolution entstand aus einzelnen Zellen ein hochkomplexer Organismus von sehr vielen Zellen, der über ein Gehirn verfügt, durch das er letzten Endes die technischen Errungenschaften gerade des 20. Jahrhunderts hervorbringen konnte. Diese Zellen und also auch Gehirnzellen entwickeln sich also automatisch, sozusagen von allein. Man muss nur eine entsprechende Zeit warten, bis zur Zellteilung oder so. Ich hatte dieses Prinzip voll verstanden. Wir sind alle in einem Modus, in einem Automatik-Modus. Jede Zelle entwickelt sich automatisch weiter, irgendwann entstehen Pflanzen, Tiere und Menschen. Diese machen wiederum ihre eigene Evolution durch, Kinder werden größer, klüger, eines Tages Erwachsene. Dieses Prinzip wende ich sofort voll bewusst an. Immerhin macht es bedeutend mehr Spaß, sich á la »Zurück in die Zukunft« oder »Star Trek« Dinge vorzustellen und Geschichten zu überlegen, als irgendwas zu lernen, was man irgendwann sowieso kann. Die Schule ist teilweise lästig.
Gestern Abend bin ich noch mit Winnetou und Old Shatterhand durch den Wilden Westen geritten, und es scheint, dass ich noch nicht wieder ganz im Hier und Jetzt angekommen bin. Der Unterricht geht irgendwie an mir vorbei. Was natürlich nicht so gut ist. Andererseits kann eine solche Ablenkung auch nutzen, zum Beispiel beim Zahnarzt. Man konnte dort problemlos in anderen Gefilden wandeln, während der Untersuchung und etwaigen »Bohrungen«. Man durfte nur nie die Realität aus den Augen verlieren, also immer wachsam bleiben. Denn interessant wurde die Geschichte sonst in dem Moment, in dem man so vertieft war und während der Behandlung das Kriegsgeheul der Apatschen anstimmte, was bei so manchem Patienten im Wartezimmer zu akuten Fluchtgedanken hätte führen können.
Später bekam Karl May ernsthafte Konkurrenz. Als nicht mehr ganz junger Teenager versetzten mich die Sagen des klassischen Altertums von Gustav Schwab in eine noch fernere Vergangenheit als in den Wilden Westen. Zeus und Hera, Poseidon, Prometheus, Perseus, Herakles, den die Römer Herkules nannten, Dädalos und Ikaros, die Argonauten, Theseus, Odysseus und das Drama um Troja. Hades, der Gott der Unterwelt, Hermes, der Götterbote. Wer hätte nicht wenigstens schon einmal gehört von der griechischen Sage von Phaeton, der den Wagen seines Vaters, des Sonnengottes Helios, steuern wollte und abstürzte, wobei er auf der Erde ein Inferno verursachte?
In der neunten Klasse hatte sich der Modus leicht überholt. Es klappte nicht mehr so ganz mit der Automatik, war nicht mal mehr halbautomatisch. Ich schrieb immer öfter Fünfen, auch mal eine Sechs, und im Halbjahreszeugnis wurde es schwarz auf weiß dargestellt: Neben einer Fünf in Physik hatte ich sieben Vieren; »die Leistungen in Englisch sind schwach ausreichend. Die Versetzung ist nicht gesichert.«, stand im Feld Bemerkungen.
Doch Schüler sind erfinderisch! Ich erfand Ausreden, um mein Gewissen, meine Eltern und sonstige Leute zu beruhigen. Eine lautete: »Kann man für etwas bestraft werden, das man nicht gemacht hat?«
Konsequenterweise würde ein Lehrer wohl sagen: »Nein, natürlich nicht. Das wäre ungerecht.« Und genau das ist beabsichtigt, ich habe nämlich meine Hausaufgaben nicht gemacht. Welchen Leser diese Anekdote an einen mittlerweile wohl oft zitierten Witz erinnert, der möge sich auch an seine Schulzeit erinnern. Dort herrschte an Ausreden wahrlich kein Mangel. Da auch diese Super-Ausrede aber irgendwann ins Leere laufen dürfte, entwickelt der clevere Schüler diverse Variationen. Schnell noch machen, bevor die Stunde anfängt, und sei es in der 5-Minuten-Pause davor, von irgendwem abschreiben (mit der Zeit entwickelt man ein Gespür dafür, wer die Aufgaben gemacht hat und einen auch abschreiben lässt), oder wenn gar nichts mehr geht, einfach dreist behaupten: »Ich habe sie vergessen« - das Heft, das Buch, meine Schulsachen. Ja, Schüler können wirklich erfinderisch sein.
Aber falsch ist es irgendwie trotzdem.
Auch als Erwachsener benutzen wir Ausreden, und eine der besten stammt aus dem Kultfilm »Blues Brothers«. Folgende Situation: Sie und Ihr Kompagnon haben mehrere Gesetze übertreten und befinden sich auf der Flucht. Die bereits etwas dauert. Mittlerweile sind die Polizeikräfte eines ganzen Landes hinter Ihnen her. Nachdem fast alle Fluchtwege zugestellt sind, bleibt Ihnen schließlich nur noch die Flucht durch einen Tunnel. Neben und über sich kubikmeterweise Stein und Erde, hinter sich Hunderte von Polizisten, bleibt nur die Flucht nach vorn. Doch der Ausgang ist noch nicht in Sicht, als sich ein Hindernis in Form einer Frau in den Weg stellt. Sie ist stinksauer und hat ein übel aussehendes automatisches Gewehr in den Händen. Und sie beweist sofort, dass sie Willens ist, es zu gebrauchen. In dem Moment mag mancher noch denken, lass sie sich austoben, irgendwann sind die Kugeln alle, und dann schnell irgendwie an ihr vorbei, bevor die ersten Polizisten da sind. Wenn man dann jedoch in Erfahrung bringt, dass die Frau berechtigterweise auf Sie sauer ist, sieht die Sache schon anders aus. Und wenn man dann noch weiß, dass sie sauer ist, weil Sie sie am Hochzeitstag haben sitzen lassen, kann man im Grunde nur noch beten, dass einen die Polizisten zuerst erreichen.
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