1 ...6 7 8 10 11 12 ...21 Wenn der Boss der Bosse sie einbestellte, waren auch die Bosse pünktlich. „Kleine Runde“ hatte es geheißen. „Kleine Runde“ besagte, dass Geschäftsführer Frantzen da war, Finanzchef Dr. Lorentz, Marketingchef Dr. Schmölders und Dr. Cagliari, Chef der klinischen Forschung. Sonst niemand. Und niemand würde es wagen zu stören, wirklich niemand. Nicht einmal die Feuerwehr, sollte es brennen.
„Meine Herren“, begann Herr Frantzen die Besprechung im kleinen Kreise ohne große Begrüßung oder freundliche Einleitung, „ich will es kurz machen: Schlechte Nachrichten aus Birmingham: Unser Einstieg in den Herz-Kreislauf-Markt mit Simsalasin ist vom Headquarter aus strategischen Gründen vorgezogen worden.
Und wir haben mit Simsalasin jetzt einen Blockbuster in der Hand, das war selbst mir neu.“
Blockbuster bedeutete einen Milliardenseller, eine Substanz, die weltweit pro Jahr mehr als eine Milliarde Dollar Umsatz machte. Davon gab es Ende der Achtziger im weltweiten Pharmamarkt nur eine Hand voll. Und dazu sollte ihr Simsalasin gehören? Das war selbst den Mitgliedern dieser illustren Runde nicht bekannt.
Damit hatte Frantzen die ungeteilte Aufmerksamkeit aller. „Lord Loughborough hat mich gerade informiert, dass wir in exakt vierzehn Monaten die Unterlagen zur Zulassung einreichen müssen. Ich kann ihnen sagen, der Lord war sehr direkt und sehr bestimmt.“
Jeder im Kreis hatte Lord Loughborough schon erlebt; nicht viele mochten ihn, eigentlich keiner: Ein Mittelding aus altem englischen Adel, Ausbilder an der Militärakademie Sandhurst und Sklaventreiber. Wobei die letzten beiden Beschreibungen mehr oder weniger dasselbe meinten. Und wenn Frantzen sagte, er sei „sehr bestimmt“ gewesen, dann hatte er es mit dem Sandhurst-Ausbilder zu tun gehabt: „Achtung. Stillgestanden!“
„Sein Stichwort“, ergänzte Frantzen, „lautete Shareholder-Value!“, als ob das etwas erklären würde.
„Unmöglich“, sagte Dr. Cagliari kopfschüttelnd, „unmöglich, ich sage es ungern, Herr Frantzen, aber das ist absolut unmöglich!“
„Kollege Cagliari“, sagte Frantzen, „Loughborough hat nicht gefragt, ob es möglich sei, er hat gesagt, wir müssen in vierzehn Monaten einreichen. Wir müssen! Und ich ergänze: Wir werden!“
Der Marketingfuzzi schaute aus seinem Designeranzug desinteressiert auf seine frisch manikürten Hände – Zulassung von Produkten, das war nicht sein Problem.
Er hatte oft genug Probleme. Zum Beispiel, wenn Umsatzziele urplötzlich angehoben oder wenn Marketingbudgets zusammengestrichen wurden (das war normal, hatte er lernen müssen), oder wenn er urplötzlich einen neuen Außendienst aus dem Boden stampfen oder kurzfristig 200 Leute rauswerfen sollte. Das waren echte Probleme, Probleme die ihn interessierten, weil er sie lösen musste. Was den blasierten Dr. Cagliari anging (allein schon der Name!) war ihm schnurz. Am liebsten wäre er aufgestanden und gegangen, aber da war der Frantzen davor!
„Herr Cagliari, ich verstehe ihre Bedenken – wie viele Patienten haben sie denn schon?“, fragte der Geschäftsführer.
„Einhundertzehn.“
„Nur einhundertzehn?“, schnaufte Gottvater, der wohl eine sehr viel höhere Zahl erwartet hatte.
„Wir sind sogar schneller als der Zeitplan“, warf Dr. Cagliari ein, „wir müssten erst 95 haben ... nach Plan, meine ich. Und das ist der Plan des Headquarters, nicht der unsrige.“
„Der Plan ist ab sofort für den Mülleimer“, sagte Gottvater, „was brauchen Sie, Kollege Cagliari, um das neue Ziel zu erreichen?“
„Das ist gar nicht zu erreichen“, wandte Dr. Cagliari aufmüpfig ein, „ich will hier nicht drum herum reden, das geht nicht – absolut nicht!“
„Sie wissen“, sagte Frantzen, „das ich ein Realist bin. Nein, Schmölders, da brauchen sie gar nicht die Backen zu blasen, ich sehe das! Aber Dr. Cagliari, auch wenn ich sie verstehe, sie müssen es schaffen. Es geht um unsere Köpfe, wirklich um jeden einzelnen, das kann ich ihnen versprechen. Die Ansage von Lord Loughborough war unmissverständlich. Die Shareholder wollen steigende Aktienkurse, sogar steil steigende.
Da muss irgendein Großaktionär Terz gemacht haben, was weiß ich, von mir aus ist auch das Königshaus pleite und braucht frisches Geld, was weiß denn ich ...
Doktor Cagliari, für sie bedeutet das, das Füllhorn ist geöffnet, sie kriegen, was sie schon immer wollten: Leute, Geld, Geräte, Computer ... Sie sagen es, Doktor Lorentz zeichnet ab. Alles! In jeder Höhe! Und wenn er nicht da ist, tue ich es. Also, was brauchen Sie?“
„Patienten“, flüsterte Dr. Cagliari, „ich brauche Patienten. Zuallererst. Und dann Prüfärzte, aber solche die funktionieren, nicht solche, die der Außendienst uns meldet, weil die mal wieder essen gehen wollen.“
Der Marketingleiter schaute Cagliari wütend an. Er wusste zwar, dass sein Kollege recht hatte, würde das aber nie zugeben.
„Nichts für ungut, Herr Schmölders, wir spielen ja meistens mit. Aber jetzt brauchen wir die Creme. Und an die kommen ihre Leute gar nicht heran, weil sie kein Produkt für die haben.“. Schmölders entspannte sich bei diesen Worten etwas.
„Und ich brauche Geld für die Prüfer, viel Geld, damit wir die Konkurrenz ausstechen – wir sind Neulinge auf dem Gebiet, uns kennt keine Sau, die anderen schon… Die guten Prüfärzte arbeiten lieber mit denen, mit denen sie schon seit Jahren arbeiten. Für uns bleibt nur die zweite oder dritte Wahl an Chefärzten, mehr oder weniger in Klitschen, und wenn, dann Problempatienten. Weiterhin brauche ich mindestens drei Mitarbeiter, besser fünf, aber fertige Fachleute ... keine Greenhorns von der Uni, die nicht wissen, wie das Geschäft läuft!“
„Solche wie ihren Lüderitz?“, fragte Frantzen.
„Ja, ja, ungefähr, aber besser steuerbar!“
„Sie kriegen fünf, von mir aus die Besten, werben sie sie irgendwo ab. Schnell. Reden sie mit der Personalabteilung, die sollen sich sputen. Und Patienten, mein Gott, die muss es doch zuhauf geben, ich denke jeder dritte Deutsche hat Hochdruck. Nehmen sie ihre Oma und ihre Tante, oder meine, die können sie gerne haben, nehmen sie jeden, den sie kriegen können. Schalten sie Anzeigen!
Und wenn das nicht reicht, dann fliegen sie sie von irgendwoher ein. Gehen sie in die DDR, der Schalck-Golodkowski verkauft ihnen die halbe Republik! Und wenn das nicht reicht, zählen sie jeden doppelt oder zaubern sie welche her. Seien sie kreativ, Cagliari! Kreativ! Wenn sie neue Prüfärzte oder –zentren brauchen, dann kaufen sie sie. Erhöhen sie die Honorare. Was zahlen wir pro Patient? Eintausend? Bieten sie fünfzehnhundert. Schippern sie ihre Prüfärzte zu jedem verdammten Kongress nach Japan oder nach Thailand. Und wenn es keinen gibt, dann veranstalten sie einen. Irgendwo. Nehmen sie die Ehefrauen oder Sekretärinnen, oder von mir aus die Geliebte mit (oder den), machen sie mit denen eine Kulturtour und schicken sie die Herren währenddessen in die Whirlpools der Puffs… Mein Gott, jeder von denen ist käuflich, das wissen wir doch. Fragen sie Schmölders, der hat eine ganze Abteilung mit lauter Spezialisten dafür… Was machen die Marketingfuzzis denn den ganzen lieben langen Tag anderes als sich ausdenken, wie sie die Kerle in den weißen Kitteln schmieren können? Sollen die ihnen helfen, wenn ihre Leute das nicht können, nicht wahr, Schmölders? Schmölders! Nun lassen sie doch endlich ihre Fingernägel in Ruhe! Sie sollen Cagliari helfen. Frantzen war offenbar nervös.
Machen sie einen kleinen intimen Kurs für wichtige Chefärzte in großen Kliniken auf den Cayman Islands. Thema: „Kreatives Steuernsparen“. Helfen sie denen, da ein Konto zu eröffnen. Das zieht eventuell mehr als ein paar tausend Mark Honorar, das die versteuern müssen. Und das Studienhonorar kriegen die da gleich als Einlage eingezahlt!
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