Denn zweitausend Patienten, zweitausend läppische Patienten nicht herschaffen zu können, galt als Versagen. Sie für GPF nicht herbeischaffen zu können, das war sogar kläglichstes Versagen. Zumindest in diesem Konzern.
Und wenn Gottvater Dr. Cagliari nicht opfern würde, dann wäre er selber dran – und das war schließlich undenkbar. Er war Gottvater und der machte keine Fehler. Niemals. Und wirklich absolut-absolut undenkbar war, dass jemand im Headquarter in Birmingham verantwortlich wäre für ein minor problem in Germany . Das sollten diese bloody Krauts gefälligst selber fixen, wozu hatten die Engländer schließlich diesen Krieg gewonnen – selber fixen und zwar schnell und geräuschlos.
Thorben würde halt für einige Zeit in Deckung gehen müssen, bis ein Nachfolger für seinen Chef sich gesettelt hätte. Darin hatte er Erfahrung. In mehr als zehn Jahren bei GPF war Dr. Cagliari sein vierter Chef. So etwas konnte verdammt schnell gehen.
„Zweitausend Patienten“, stöhnte Thorben, „puh, zweitausend – nicht machbar, Chef, wirklich, da müssten wir schon hexen können… und das kann nicht einmal der sechste Stock!“
„Nennen sie diesen Namen nicht“, presste Cagliari durch offenbar geschlossene Lippen, „nicht jetzt, nicht mir gegenüber, niemals! Haben sie verstanden. Nicht, bevor sie eine Idee haben, wie sie alles herschaffen, Lüderitz.“
Thorben sagte nichts. Sein Chef auch nicht. Nach einer Weile brach Cagliari das Schweigen. Mit geradezu flehentlicher Stimme fragte er: „Lüderitz? Sind sie noch da?“
„Ja!“
„Haben sie keine Idee, nicht eine klitzekleine?“
„Nein“, sagte Thorben und das war auch nicht gelogen. Sein Gehirn war wie leer gefegt.
Er musste seinem Chef recht geben, sie war schon bösartig, hinterhältig, gemein und eine verdammte Expertin im Legen von Tretminen, diese Gailbraithwisthle. Aber ihr eigener Oberboss war auch eine selten charakterlose Pfeife, fand Thorben.
„Äh, Chef?“, sagte er dann.
„Ja?“, hörte er Cagliari, in dessen Stimme ein Funke Hoffnung mitschwang, „was ist?“
„Frau Heinz lässt sie für den Kuchen grüßen, der war ganz lecker, hat sie gesagt…“, sagte Thorben. Dann hörte er einen Schrei „Lüderitz!“, und dann nichts mehr, denn Dr. Cagliari hatte wortlos aufgelegt.
6. Juni. Thorben parkte gerade seinen Wagen in der Tiefgarage, als von hinten ein aufgeregter Dr. Cagliari winkte und bedeutete, dass er warten solle. Als Cagliari ihn eingeholt hatte, sagte der ihm noch atemlos vom schnellen Gehen: „Morgen, Lüderitz! Ist ihnen nun etwas eingefallen, wie wir die Sache packen können?“
Thorben schüttelte den Kopf: „Ich habe an nichts anderes denken können, aber nee, keine Idee. Ich komme immer nur auf dieselben Zahlen und Zeiten. Tut mir leid, die stimmen einfach.“
Dr. Cagliari schaute ihn irgendwie etwas verschlagen an. „Aber mir, Lüderitz, vielleicht…, Vielleicht, wissen sie, Lüderitz, gibt es da ja doch eine Chance. Eine kleine zwar. Die letzte vielleicht. Eine wackelige Brücke über den reißenden Strom, aber eine Chance!
Sagen Sie einmal, Lüderitz, Sie hatten da doch diesen Bekannten, diesen leicht verrückten Heini, Sie wissen schon, diesen Typen, der uns dieses Kostenvergleichsprogramm unterjubeln wollte, das keiner versteht ...?“
„HEAD?“, antwortete Thorben.
„Mag sein, vielleicht, keine Ahnung – aber der hatte da doch dieses andere Programm, dieses, mit dem man Mitarbeiter in der Klinischen Forschung ausbilden konnte? Kann uns das nicht helfen? Ich meine, irgendwie?“. Cagliaris Gesicht wirkte dabei irgendwie schlau, fand Thorben.
„Klinische Studien Simulation? Ich wüsste nicht wie, zur Ausbildung von Monitoren vielleicht? Aber sie haben doch gesagt, da kommen fertige „Supermänner.“
„Nein, nein, ja doch, die sind dann schon fertig…“, antwortete Cagliari hastig, „aber darauf kommt es doch gar nicht an! Denn, wenn das Programm Klinische Studien simulieren kann, was liefert es?“
„Naja, durch Simulation erzeugte Patientenbögen, also Daten die Mitarbeiter auf Fehler prüfen sollen, also so etwas wie Dummies“, sagte Thorben.
„Genau! Das liefert Patientenbögen. Und? Na, Lüderitz“, sein Chef machte eine kalkulierte Pause, schaute ihn auffordernd an, und machte zwei-, dreimal eine kreisförmige Handbewegung, wohl, um ihn zum Denken, zum schnelleren, aufzufordern: „Nun kommen sie schon…, machen sie…, Mensch, Lüderitz, begreifen sie denn nicht?“. Schließlich sagte er offenbar enttäuscht, dass sein Mitarbeiter nicht auch auf die naheliegende Lösung kam: „Das Programm liefert das, was sie nicht haben, Lüderitz: Patientenbögen!“
„Ich? Wieso habe ICH keine Patientenbögen? Wir haben nicht genug Patienten und wir können auch nicht genug herschaffen. Aber die aus dem Programm, die gibt es doch gar nicht, die Patienten.“
„Aber die Bögen! Die Bögen, Lüderitz, herrschaft, manchmal sind sie aber auch schwer von k.p. Haben sie die Nacht durchgesumpft, oder was? Das ist es doch! Können sie den einmal einbestellen?“
„Wen? Ach ja, den! Ja, natürlich.“
„Wo sitzt der mit seiner Klitsche?“
„Hier in München.“
„Perfekt.“. Inzwischen standen sie vor dem Fahrstuhl. Fräulein Gramlich, Gottvaters Kontrollerin, hatte sich zu ihnen gesellt und gegrüßt und sich leicht beleidigt abgewandt, als keiner von ihnen den Gruß erwiderte – das würden sie büßen, das war klar. Aber im Moment hatten die beiden keinen Kopf dafür, ihre Augen waren in eine andere Dimension gerichtet, also warteten sie jetzt schweigend. Auch im Fahrstuhl sprachen sie nicht. Als Thorben seine Etage erreicht hatte und das Fräulein Gramlich irgendwohin verschwunden war, sagte Dr. Cagliari: „Lüderitz, was ist? Was schauen sie denn so? Das war keine Erscheinung, das war bloß die Gramlich, die kennen sie doch… Worauf warten sie noch?“. Thorben war schon ausgestiegen, hielt die Tür aber noch einen Moment lang auf.
„Ja, ich ...“
„Los, Lüderitz, hopp hopp, machen sie sich auf die Socken, rufen sie den Kerl an, machen Sie uns einen Termin. Und, Lüderitz, kein Sterbenswörtchen, wofür wir das Programm brauchen, nicht wahr, das bleibt unter uns beiden Pfarrerstöchtern. Kein Wort zu anderen, auch nicht zu ihrer properen Mitarbeiterin, der neuen Hübschen, wie heißt die noch? Ach ja, Ketchup oder so ähnlich? Sehr hübsche Braut, die sie sich da unter den Nagel gerissen haben, Lüderitz, Gratulation! Sagen sie mir Bescheid, wenn sie den Termin haben, je eher desto besser. Ich sage Frau Peters, dass sie jederzeit Zugang zu mir haben, jederzeit, und auch zu der bis auf Weiteres kein Wort über unser Projekt, klaro?“
„Aber die wird wissen wollen, um was es geht, wenn ich zu ihnen will, die ist verdammt hartnäckig.“
„Na gut, sagen sie Projekt ..., fällt Ihnen etwas ein, Lüderitz? Na, ihnen wird doch etwas einfallen, nun mal nicht so langsam, Lüderitz.“ Thorben hielt immer noch die Tür auf.
„Hhm, mal nachdenken“, sagte er nachdenklich, „wie wäre es mit Projekt Eos, also Morgenröte?“
„Ich weiß, wer Eos ist, Lüderitz, naja, nicht gerade brillant, aber o.k. Dass wir langsam wieder Licht sehen in diesem Scheißtunnel, meinen sie? Von mir aus, nun denn, also Eos“
Damit war Thorben entlassen. Er ließ die Fahrstuhltür los, sie schloss sich und sein Chef verschwand hinter ihr.
Thorben schaute sinnend noch eine Weile auf die verschlossene Tür. Schließlich ging die wieder auf, und der sehr erfreuliche Anblick von Fräulein Heinz in ihrem Fähnchen von einem Sommerkleid riss ihn abrupt aus seinen Gedanken.
„Guten Morgen“, grüßte die, um dann zu fragen „ist etwas Dr. Herr Lüderitz? Haben sie ein Gespenst gesehen?“
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