„Warum fragst du? Nein, in keinster Weise.“
„Wirklich?“, fragte Kalle nach.
„Ich schwöre“, lächelte sie ihn verliebt an. In diesem Geschäft kann man niemandem trauen, wirklich niemandem. Aber Kalle wollte Anna Walentina Serowa vertrauen. Er wollte es wie nie etwas zuvor. Und deshalb entschloss er sich, es doch zu tun. Liebe kann einen Mann blind machen – aber selbst das war Kalle in diesem Moment egal.
„Ich glaube dir, Anna!“
„Hilfst du uns?“
„Ja, Anna Walentina Serowa. Komm, lass uns ins Bett gehen, ich bin müde, Mädchen. Du hast einen alten Mann sehr, sehr glücklich gemacht – aber auch sehr, sehr müde. Den Rest besprechen wir morgen mit den anderen. Du hast deinen Job gut gemacht.“
„Das hier war kein Job“, sagte sie, „niemals!“. Und dann weinte sie. „Dass du das glauben kannst. Sag das nie, nie wieder!“
„Nein“, sagte er, nahm sie in den Arm und drückte sie, „nein, das werde ich nie wieder tun. Anna Walentina Serowa, das ist ein Schwur. Uns bringt nichts mehr auseinander!“
„Nicht einmal der Tod“, murmelte sie im Einschlafen an seiner Schulter und: „Bringst du mich ins Bett, bitte?“
Als er sie vorsichtig ablegte und zudeckte, schlief sie schon.
16. Juli 2019. Kalle wachte am späten Morgen davon auf, dass ihn kurze rote Haare ungewohnt im Gesicht kitzelten. Es dauerte einen Moment, bis ihm klar war, dass das nicht Raúls Federn, sondern Haare von Anna waren, die sich möglichst dicht an ihn gekuschelt hatte.
Ein glückliches Gesicht, strahlende wasserblaue Augen und viele niedliche Sommersprossen strahlten ihn an. „Guten Morgen“, flüsterte sie, als ob sie ihn nicht aufwecken wollte, was purer Unsinn war, wie sich gleich herausstellen sollte, „Приятного утра“ 6, sagte sie auf Russisch. Dann verschwand sie unter der Bettdecke, unter der sie eine ganze Weile verweilte. Als sie wieder auftauchte, lachte sie ihn an und sagte gebrochen deutsch sprechend, als ob sie es nicht richtig könne: „Maschinist nix mehr Havarie, Maschinist repariert...“.
Das hätte sie Kalle nicht zu erklären brauchen, das hatte der sofort gemerkt, als sie unter Zuhilfenahme von Händen, geschickten Fingern und sehr energischen Lippen mit der „Reparatur der Havarie“ befasst gewesen war.
„Bleib so liegen“, wies sie ihn an, um den Erfolg ihrer Reparaturmaßnahmen zu überprüfen. Ihre Prüfungsmethode war interessant und sehr befriedigend, fand Kalle. Sie schien auch zufrieden...
Aber wir blenden uns sicherlich zur Enttäuschung einiger Leser*innen, die „gute Stellen“ im Text suchen, aus und lassen unser altes Paar allein. Die beiden werden auch ohne uns wissen, was sie zu tun haben – und Sie wissen es auch. Wir können zwischendurch ja einmal ausrechnen, wie viele Jahre, Monate, Tage und Stunden (weiter wollen wir nicht gehen, denn das wäre pseudogenau) sie einander verpasst haben. Ich erspare Ihnen das unangenehme und wegen der Schaltjahre vielleicht fehlerbehaftete Gerechne – für so etwas gibt es in Russlands Internet verschiedene ganz brauchbare Apps, aber da wir uns im kapitalistischen Westen befinden, verwenden wir ganz schnöde einfach Excel: Das Ergebnis lautet 37 Jahre und 319 Tage, insgesamt also 13.834 Tage. Im Nachhinein betrachtet erscheint mir das noch weitergehende Berechnen der Stunden als deutlich zu intim. Aber jetzt blenden wir uns wieder in das Geschehen ein.
Irgendwann lagen sie wieder erschöpft, aber glücklich nebeneinander auf dem Bett. „Aufstehen, Faulpelzin“, lachte Kalle, „irgendwann müssen wir mal frühstücken. Ich mache Kaffee, während du duscht...“
„Das ist das Schlimme an euch alten Männern“, lachte sie, „irgendwann können oder wollen sie nicht mehr, schade...“
„Ich denke, ihr seid hier, um mich zu überzeugen?“, rief Kalle ihr auf ihrem Weg in die Dusche nach.
„Das habe ich gehört“, rief sie zurück, „was soll ich denn noch tun?“
„Orlow wartet bestimmt schon auf uns“, gab Kalle zu bedenken.
„Alexei Iwanowitsch kann warten“, nuschelte sie, „wäscht du mir den Rücken? Und dann muss ich ganzheitlich eingecremt werden“. Also dauerte es wieder, bis sie sich an den Frühstückstisch setzen konnten.
„Keine Eier?“, fragte Anna harmlos, „oder Eier leer?“
Prora. Kalle, Anna & Orlow
16. Juli 2019. Gegen 15.00 telefonierten Anna und Orlow miteinander und änderten den Treffpunkt. Kurz danach trafen sich die drei im italienischen Restaurant im Hotel Solitaire in Prora ganz in der Nähe von Kalles Wohnung.
Anna meinte, unter Unterdrücken jeden Grinsens, ernsthaft und laut, dass Kalle heute unbedingt viel Eiweiß brauche. Russischer Kaviar sei am allerbesten, Fisch aber auch brauchbar.
Jetzt kaufen Sie mal russischen Kaviar der von ihr präferierten Sorte Malossol im italienischen Restaurant oder überhaupt in Binz oder in Nordost-Rügen. Binz gibt sich zwar gerne als das mondäne Sylt der Ostsee, aber mindestens kaviarmäßig liegen nicht nur 340 km Luftlinie, sondern Welten zwischen Binz und Sylt.
Also sassen die drei bei italienischer Fischsuppe, Pizzabrot, den größten Hummern, die die jetzt leeren Becken liefern konnten, und Stralsunder Bier an einem etwas abseits gelegenen Tisch und unterhielten sich über unverfängliche Themen: Die Abhängigkeit Westeuropas von Gaslieferungen, Gazprom als Sponsor von Schalke 04 und der Champions League – so etwas in der Art.
Kalle konzentrierte sich inzwischen auf das Vertilgen seines Hummers und zeigte keinerlei Reaktion, außer dass er einmal leise kurz fluchte, als ihm eine Hummerschere beim Knacken aus der Zange flutschte.
Dann schlug Anna einen Strandspaziergang entlang des Riesenbaus vor, dem man seine Nazivergangenheit nicht mehr ansah: Renoviert, mit viel weißer Farbe und Glas aufgehübscht, also tres chic : Ganz in Weiss mit vorgehängten gläsernen Balkonen.
Der Wind hatte gedreht und etwas aufgefrischt, Wellen rollten als kleine Brecher an den zwischen Binz und Prora ziemlich leeren Strand. Jedem Agenten war klar, dass man sie bei diesem Wetter an diesem Ort unter diesen Bedingungen nicht abhören konnte – viel zu viel Rauschen! Sicher ist sicher, fanden sie, auch wenn da wahrscheinlich niemand war, der sie abhören konnte oder wollte – aber man wusste ja nie... Agenten, insbesondere erfahrene Agenten und in diesem Falle erfahrene Agentinnen, die viel herumgekommen sind, sind da eigen: Sie wittern den Feind immer und überall! Nur deshalb sind sie als Agenten so alt geworden.
„Anna Walentina hat ihnen wahrscheinlich das Wichtigste erzählt?“, fragte Orlow in Richtung Kalle.
„Ja, Amerikaner wollen NorthStream zerstören!“
„Im Großen und Ganzen richtig, wahrscheinlich sogar beide Pipelines, so würde ich es jedenfalls machen, wenn ich die wäre – wenn ich schon einmal dabei wäre... Dann doch beide, ist doch nur logisch, ist doch ein Aufwasch.“
„Laufen die Pipelines denn parallel?“, wollte Kalle wissen.
„Im Prinzip schon, aber nicht dicht zusammen, sie kreuzen sich sogar einige Male.“
„Dann würde ich wahrscheinlich da ansetzen, wo sich die Leitungen kreuzen“, meinte Kalle nachdenklich, „wissen wir, wie sie es machen wollen? Bomben aus der Luft? Raketen? Wasserbomben? U-Boote? Kleinst-U-Boote? Von Tauchern angebrachte Sprengsätze? Torpedos? Wird es ein groß angelegtes Manöver oder werden kleine Spezialeinheiten eingesetzt werden? Werden es US-Amerikaner sein, die angreifen oder doch Balten, Ukrainer oder Polen? Machen die es aus antirussischer Überzeugung und Geld? Oder sind es irgendwo auf der Welt angeheuerte Söldner, die es ausschließlich für Geld machen? Oder wird man die Kopfstationen sprengen oder via Internet angreifen?“
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