Der zweite Mann war nicht einzuschätzen. Doch, so etwas gibt es: Wenn es ein Verbrechen gäbe, kein Zeuge würde sich an ihn erinnern. Kalle kannte diesen Typ Mann. Er strahlte innere Ruhe und Kraft, eine starke Überzeugung und eine gewisse Gefahr aus – man würde ihn als Gegner aber erst wahrnehmen, wenn es bereits zu spät wäre.
Die propere – Kalle hatte sich mit sich selbst auf „proper“ als die am ehesten zutreffende Bezeichnung für sie geeinigt – Rothaarige und der jüngere Mann trugen beide dunkelblaues Tuch, wie es in vielen Handelsmarinen bei großen Reedereien getragen wird. Sie als Uniform-Kostüm, er als Uniform-Anzug. Ja, befand Kalle, das waren Uniformen, allerdings sehr gut geschnittene Uniformen, aber keine militärischen, und fast ohne jeden goldenen Schnickschnack, den die beiden ganz offenbar auch nicht benötigten. Das bisschen Gold, das beide auf dem blauen Tuch trugen, war sehr dezent. Und trotzdem strahlten sie eher „Admiral“ als „Seemann“ aus. Jeder Seemann würde in jeder Marine der Welt sofort tun, was die beiden anordneten – diese Art Typus waren sie! Befehlshaber.
Alle vier nahmen Platz. Wenn für so etwas bereits Messgeräte verfügbar wären, so hätte man wohl festgestellt, dass in diesem Moment in der Nähe von Prora aus dem Nichts ein neues Schwerkraftzentrum entstanden war! Schwerkraft soll die geringste aller Naturkräfte sein, behaupten Physiker, die sich mit ihr beschäftigen. Aber dieses Schwerkraftzentrum war eindrucksvoll. Messbar! Drei umeinander kreisende Schwerkraftpole, die auf einen vierten warteten. Die Chinesin war in diesem System nicht einzuordnen.
Dann trat Mandy zu ihnen, begrüßte sie freundlich und nahm ihre Bestellung auf. Hören konnte Kalle durch das geschlossene Fenster nichts. Sie sprachen noch einen Moment miteinander, in dem Mandy einmal kurz zu seinem Fenster herüberschaute. Dann sah er alle fünf lachen.
Für alle Fälle – er wusste ja nicht, was kommen würde – prüfte er kurz den Keller – alles paletti. Leise schloss er die Bodenklappe, verschloss sie aber nicht. Man wusste nie, fand Kalle, manchmal musste man schnell sein können. Und in unübersichtlichen Situationen – dieses konnte eine werden – war er gerne vorbereitet...
„Zwei Kaffee, türkische Art, ein Kaffee mit Branntwein, obwohl er Cognac gesagt hat, und ein stilles Wasser“, bestellte Mandy keine Minute später bei Kalle, „und du sollst mal bitte rauskommen, die wollen mit dir reden. Das „bitte“ habe ich eingefügt, die haben es vergessen! Es sei wichtig, haben sie gesagt, und sie wüssten sicher, dass du da wärest, du solltest also gar nicht so tun, als ob nicht... Das war der jüngere Mann. Man, ein heißer Typ, ein Macho!
Und dann soll ich noch sagen, alles Weitere würden sie mit dir, und nur mit dir, besprechen – ich solle die Bestellung bringen und dann bitte aufpassen diesmal übrigens mit „bitte“, dass niemand an den Tisch kommt! Kalle, wenn du mich fragst, erstens kennen die dich von irgendwo oder irgendwann, und zweitens nimmst du am besten ein paar Gläser und eine Flasche Wodka mit... Ist schließlich schon fast Mittag! Und drittens wollte ich dir noch sagen, dass du vorsichtig sein solltest, denn a) ist die russische Rote genau der Typ Frau, den ich als deinen Typ bezeichnen würde, wenn du mich fragst und b) ist ihr Freund, der aber garantiert nicht ihr Freund ist, du weißt schon was ich meine, mindestens so gefährlich wie eine alte erfahrene und sehr hinterlistige Klapperschlange mit verdammt großer Trickkiste.
Schlussendlich sagt mir mein Instinkt, dass mit der Rothaarigen und ihrem Begleiter ganz und gar nicht gut Kirschen essen ist, vor allem wenn die nicht wollen.
Da ist schon eine seltsame Stimmung in der Luft. Die ganze Mischpoke ist eine Melange aus Deutschem, das ist der Alte mit Kaffee-Cognac, der hat wohl das Sagen und sich offenbar eine Koreanerin oder so, die mit stillem Wasser, gegriffen, und den beiden Russen – erst ´mal Kaffee.
Die Russen gehören aber, glaube ich, privat jedenfalls nicht zusammen, das sagt mir mein Kellnerinnen-Bauch. Oder habe ich das schon gesagt?
Das war´s, Kalle, ich hoffe, du kannst noch russisch? Und wenn du schon mit denen redest, sorg´ mal bitte dafür, dass die ein ordentliches Trinkgeld geben! Ach ja, und pass auf Raúl auf.“
Russisch! Wenn das alles war, das war kein Problem, denn die Sprache konnte Kalle wie eine zweite Muttersprache, oder fast, er hatte lange kein russisch mehr gesprochen. Spanisch übrigens auch nicht. Aber dazu später mehr.
Kalle blickte noch einmal durch das Fenster, konnte aber nichts Bestimmtes wahrnehmen, was ihn beunruhigte.
Er nahm die noch nicht angebrochene Flasche Hennessy Paradis Extra aus dem Chronometer-Kasten an der Wand hinter der Bar. Die Flasche hatte er vor Jahren auf dem Heimflug von einem Auftrag, der natürlich bar und ohne Rechnung bezahlt worden war, auf dem Pariser Flugplatz Charles de Gaulle für besondere Gelegenheiten für ein, wie er fand, wahres „Schweinegeld“ gekauft.
Er hatte das Gefühl, dass ihn so ein Moment erwarten würde oder könnte, in dem genau diese Flasche angebracht wäre. Außerdem hatte die Russin, deren Freund offenbar gar nicht ihr Freund war, besonders hübsche hellblaue Füße – ausgesprochen süß. Was er von seiner Position aus nicht sehen konnte war, dass ihre Augenfarbe genau mit der Farbe ihrer Pumps übereinstimmte.
Bedenken, dass etwas Unangenehmes passieren könnte, hatte er nicht.
Er nahm also in aller Ruhe ein Tablett, fünf Gläser und die teure Flasche und ging damit zu den neuen Gästen. Im Rausgehen klopfte er leicht an das alte Barometer, das er von dem Hochseeschlepper mitgebracht hatte. Stabil, keine Wetteränderung zu erwarten! Gut so.
Dass es keine Wetteränderung geben würde, sagte das alte Barometer ziemlich verlässlich voraus, ob es Änderungen in Kalles Leben geben würde, konnte kein Barometer der Welt vorhersagen. Barometer sind auf Luftdruck und damit Wetter spezialisiert, wie wir alle wissen.
Als er noch drei oder vier Meter vom Strandkorb entfernt war, drehte die Russin mit den kurzen frech geschnittenen Haaren ihren Kopf in seine Richtung. Ihm haute es in dem Moment fast die Beine weg, als er ihr Gesicht mit den wasserblauen Augen, der leichten Stupsnase und den vielen Sommersprossen auf Nase und Wangen sah.
Sie blickte ihn einen kurzen – dieses kurz, das zwischen Mann und Frau unendlich lang bedeuten kann – Moment an, ohne ein Wort zu sagen. Dann sagte sie leise und etwas zu heiser für das Wetter: „Guten Tag, Kalle, wir haben uns lange nicht mehr gesehen..., viel zu lange, finde ich. Aber es war auf dieser Welt irgendwie und irgendwo nie die richtige Zeit, nie der richtige Ort... Schön, heute könnte es vielleicht passen, hoffe ich.“
Dann fügte sie ein leises und offenbar sehr privates „vielleicht?“ hinzu.
Kalle schaffte es vor Überraschung gerade noch, das Tablett abzusetzen. So gut wie nichts hatte ihn bei seinen weltweiten Aktivitäten, über die im Rahmen dieser Geschichte noch nichts erzählt wurde, erschüttern können. Kein Nordseesturm mit oder ohne Kaventsmann, kein karibisches Tornadounwetter und kein Verhör durch US Coast Guard oder CIA hatte je seine Standfestigkeit bedrohen können. Ihn nicht. Er war der Kalle mit den eisernen Nerven, ach was, eisern – mit den Nerven wie Stahlseile... Diese Frau aber tat es. Sie war das Erdbeben der Stärke 9+ auf seiner privaten Skala, von der er gedacht hätte, sie würde bei 6 oder 7 enden.
Ihr unerwartetes Erscheinen zog ihm den Boden unter den Füßen weg, wie es keine Schiffsbewegung und kein amerikanischer Agent je gekonnt hatte.
Deshalb musste er erst mehrfach sehr tief Luft holen. „Anna Walentina Serowa! Bist DU das? Wirklich?“.
Kalle kam sich selten dumm vor, als er ihren Namen bestenfalls nur stammeln konnte. Sein Magen war ein einziger Knoten, vielleicht sogar ein Stoppersteg.
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