„Ja, ja, natürlich, morgen hier um die gleiche Zeit, das passt mir natürlich...“, sagte der immer noch in einer Gehirnhälfte, nämlich der, die sich mit Anna beschäftigte, fassungslose Kalle.
„Du bleibst noch?“, fragte er Anna. Die nickte zustimmend. Die anderen drei erhoben sich gerade aus dem Strandkorb als Mandy zwei Café türkischer Art, einen Kaffee mit Branntwein und ein stilles Wasser servieren wollte. Gerhard winkte freundlich lächelnd ab.
„Wir müssen leider schon...“, sagte er und steckte Mandy einen Hunderteuroschein zu, „leider... Stimmt schon, Fräulein...“. Mandy schaute verdutzt auf den Schein und rechnete schnell das darin enthaltene Trinkgeld aus. Großzügig, in Prozenten sogar enorm – wie gesagt, Mandy ist keinesfalls dumm –, damit hatte sie nun nicht gerechnet. Kalle hatte offenbar genau die richtigen Worte gefunden. „Die können ruhig öfter reinschauen“, befand Mandy für sich, komische Leute zwar, aber das Trinkgeld war okay, das gefiel ihr. Damit brachte sie das Tablett mit den nicht angerührten Heiß- und Kaltgetränken wieder hinein.
15. Juli 2019. „Wollt ihr noch etwas?“, fragte Mandy Kalle im Abgang, „Champagner, vielleicht? Ihr habt doch ´was zu feiern, wie es aussieht? Sieht man doch!“
„Nein“, lächelte Kalle, „danke, Mandy, ich glaube, im Moment haben wir alles...“
„Glaube ich sofort“, dachte Mandy, „vor allem habt ihr euch!“, sagte aber nichts. War da ein Hauch Neid in ihr? Nein, die Zeit war lange vorbei, dass sie wegen Kalle auf eine Frau eifersüchtig gewesen wäre. Lange her, aus und vorbei. Kalle war nur ein Chef, ein guter zwar, aber nur ein Chef.
Dann verschwand sie, um andere Gäste zu bedienen, deren Anwesenheit Kalle und Anna Walentina nicht aufgefallen, und die ihnen auch völlig „wurscht“ waren.
„Setzen wir uns wieder?“, schlug Kalle vor und setzte sich, ohne auf eine Antwort von Anna Walentina zu warten, neben sie in den Strandkorb.
„Lange her“, sagte Anna Walentina irgendwann.
„Ja, sehr lange”, sagte Kalle.
“Zu lange”, befand Anna Walentina.
„Viel zu lange“, stimmte Kalle zu.
„Bist du inzwischen verheiratet?“, wollte Anna wissen.
„Nein.“
„Liiert?“
„Nein.“
„Deine Kellnerin?“, wollte Anna wissen.
„Nur Kellnerin. Und du?“
„Nein und noch einmal nein. Und bevor du nach Orlow fragst: Kollege, Kamerad, sonst nichts!“
„Keine Zeit? Keine Lust, keine Gelegenheit oder nicht der Richtige?“, fragte Kalle immer noch in die Ferne schauend.
„Alles davon. Und zu viel Arbeit.“
„Warum bist du damals verschwunden wie´s Würstl vom Kraut?“, wollte Kalle dann von Anna wissen. Das war die Frage aller Fragen, die Frage, die ihn jeden Tag umgetrieben hatte. Jeder Blick auf den Horizont war eine Suche nach Anna gewesen. Schmerzhaft.
„Was bedeutet das?“, wollte Anna wissen, „Wie´s Würstl vom Kraut?“
„Ist etwas Bayerisches, bedeutet wohl: Spurlos verschwunden, oder so.“
„Mein Vater, er hat mich eines morgens eingepackt und mit einem Konvoi nach Hause geschickt. Er hat damals wohl etwas gemerkt. Er war nicht böse, oder so. Er war einfach so. Mächtig. Er liebte mich unendlich. Und dann kam der erste junge Mann... Ich hatte keine Wahl..., ich war absolut wehrlos“, seufzte Anna Walentina, „es war ja noch eine andere Zeit. Töchter gehorchten, und er war allmächtig!“
„Oberst Serow, ich weiß... Fast wäre ich mal gekommen...“, sagte Kalle leise, „nach Wologda.“
„Das wäre schön gewesen... Warum bist du nicht gekommen?“
„Ich war beim Militär!“
Mittellange Pause zum Nachdenken.
„Ich habe damals deinen Vater besucht...“
„Was? Das weiß ich ja gar nicht. Das hat er nie erzählt. Was hat er gesagt?“
Kalle winkte unbestimmt ab. „Egal, weiß ich auch nicht mehr. Du musstest zur Schule oder so. Und dann studieren.“
„Stimmt“, sagte Anna leise, „aber es war schwer!“
„Deine Briefe...“, sagte Kalle genauso leise, „irgendwann kamen sie nicht mehr.“
Die beiden schauten immer noch parallel zueinander in die Ferne, schauten sich nicht an.
„Da hat meine Mutter mich erwischt. Sie hat das unterbunden. Sie war – so komisch... Keine Ahnung. Vielleicht hatte sie Angst, dass du kommen oder ich weglaufen würde?“
„Ich habe dich geliebt“, sagte Kalle und schaute Anna Walentina an.
„Ja. Ich dich auch.“
„Wir waren jung!“, sagte Kalle.
„Waren wir etwa zu jung?“, fragte Anna zurück.
Kalle zuckte mit den Schultern. „Wer weiß. Glaube ich nicht. Ich war zwanzig! Du warst siebzehn... Schade drum! Wäre da etwas draus geworden?“
„Aus uns beiden?“. Jetzt schaute Anna Kalle lange sinnend an. Nach einer Weile sagte sie: „Wer weiß? Vielleicht... Aber – wie denn?“
Kalle: „Ich bin dann in die Sowjet-Union gegangen...“
Anna: „Das war später. Aber sag jetzt bitte nicht, dass du meinetwegen gekommen bist, das glaube ich dir nämlich einfach nicht“
„Wer weiß? Vielleicht...“, lächelte Kalle ein sehr verstecktes Lächeln.
Anna nahm nach einem Moment seine Hand in ihre. Kalle durchfuhr dabei so etwas wie ein starker Stromschlag. Sie sagte nichts. Er drückte ihre Hand. Sie lehnte sich an ihn.
„Kalle“, seufzte sie.
„Meine Anna Walentina“, sagte er mit Betonung auf „meine“. „Wie lange ist es her?“
„Zu viele verlorene Jahre“, seufzte sie und küsste zaghaft seine Hand, die sie – natürlich – nicht losgelassen hatte. „Ich mag das jetzt nicht ausrechnen...“.
Das hätte sie gar nicht ausrechnen müssen, denn sie wusste es jeden Tag auf Jahre, Monate, Tage und Stunden genau, aber sie fand, dass er das jetzt noch nicht wissen musste.
„Hast du auf mich gewartet?“, wollte sie nach einiger Zeit wissen.
„Um ehrlich zu sein: Am Anfang ja. Irgendwann dann nicht mehr. Aber irgendwie auch doch immer. Ich habe sehr viel an dich gedacht. Lange täglich. Ich habe mit dir geredet, und du hast zu mir gesprochen. Wenn eine Situation ´mal knapp war, dann warst du bei mir, hast mir geholfen. Immer. Du hast mich nie im Stich gelassen, Anna.“
„Nein“, flüsterte sie, „das habe ich nicht. Und ich war häufiger in deiner Nähe, als du glauben wirst. Bei einigen von deinen Einsätzen war ich da, aber es hat nie gepasst. Irgendwie haben wir uns immer verpasst. Ich habe auch viel mit dir gesprochen, Kalle, immer wieder. Und du mit mir. Ich habe deine Karriere verfolgt. Im Deutschen sagt man doch so, oder: Ich habe dir immer den Daumen gedrückt, wenn ich dich schon nicht drücken durfte.“
Kalle schaute Anna bei den letzten Worten ins Gesicht, sah, dass sie jetzt tonlos weinte. Er beugte sich zu ihr und küsste ihr die Tränen weg, sie ließ es nur zu gerne geschehen.
„Aber ich habe kein keusches Leben geführt“, sagte sie irgendwann, „das musst du wissen.“
„Ja“, nickte er, „ich auch nicht. Ich auch nicht, Anna. Aber da war nichts. Nie. Das ging einfach nicht. Da wollte nichts kommen.“. Damit tippte er sich auf sein Herz.
„Fühl du mein Herz“, sagte sie und legte sanft seine Hand auf ihre Brust, „es wartet so sehr darauf.“
Er wusste nicht, warum er es jetzt sagen musste, aber er sagte es: „Du hast dich verändert, Anna Walentina!“
„Ja“, sagte, „ich bin eine Frau geworden, ich bin mit den Jahren älter geworden. Jedes Jahr eins. Das ist so bei Frauen. Ich glaube, das ist ein Naturgesetz. Ich habe Falten bekommen und der Busen ist gewachsen seit damals. Und der Rest auch – aber nur wenig. Ich habe mich gut gehalten, sagt man mir.“
Das mit dem in den Jahren gewachsenen Busen gefiel Kalle sehr gut. Das war ihm sofort aufgefallen, als er sie vorhin gesehen und erkannt hatte. Wie er sie überhaupt noch schöner fand als damals. Wenn das möglich war. Aber warum sollte das nicht möglich sein? Ein Mensch musste mit siebzehn doch noch nicht fertig sein, oder? So wie sie jetzt aussah, hatte er sie sich gestern, vorgestern und vorvorgestern noch vorgestellt. Genau so.
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