Wenige Tages später werde ich von dem Nachrichtenton meines Handys geweckt. Der Zeiger der Uhr steht gerade auf der Sieben, es gäbe keinen Grund für mich um diese Zeit aufzustehen. Dennoch interessiert mich, wer mir frühmorgens schreibt.
Hey Thea, sorry hatte gestern nach dem Yoga ein Date. Auch heute wird’s mit Telefonieren nichts.Tom und ich gehen ins Kino. Ich hoffe, dir geht es gut. Sei bitte nicht sauer, ich habe leider nicht so viel Freizeit wie du. Hab dich lieb!
Das kann doch wohl nicht wahr sein. Um mir mitzuteilen, dass sie auf Wolke 7 schwebt und ich deshalb die zweite, ach was sage ich, die zehnte Geige spiele, weckt sie mich. Und was soll „Ich habe leider nicht so viel Freizeit…“ heißen. Die spinnt wohl! Sie weiß ganz genau, dass ich auf diese „Freizeit“ verzichten würde, wenn ich ein normales Leben haben könnte. In mir steigt das Verlangen auf, gegen mein Bett zu treten oder das Smartphone ins Eck zu werfen. Wie kann sie nur in diesem Maße unverschämt zu mir sein. Freizeit! Ich würde alles für ein normales Leben geben, eines mit Arbeit, Freunde und Stress. Ihr „Ich hab‘ dich lieb“ kann sie sich sparen! Und was mache ich mit dem angebrochenen Tag? Schlafen kann ich nach diesem Ärger nicht mehr und zum Aufstehen habe ich grundsätzlich um diese Zeit keine Lust. Draußen ist es kühl und im Haus fühle ich mich einsam. In meinem Bett bin ich unter meinen weichen Decken und zwischen den flauschigen Kissen in Sicherheit. Niemals würde mich ein Mörder unter dem Berg finden und wenn doch, dann sticht er in Stoff und Füllmaterial und verfehlt meinen Körper.
Mein Kaffee schmeckt viel besser seitdem ich heimlich Milch hineinschütte, und ja ein Zuckerwürfel landet auch ab und zu darin. Einmal erwischte mich Lucinda, sie schenkte mir ein Zwinkern und ignorierte meine „Straftat“ stillschweigend. Ich folge im Fernseher ein Gespräch zweier Menschen über Stressbalance im Alltag. Work-Life-Balance oder wie sie es nennen. Stress. Ich rühre gelangweilt in meiner Tasse. Eine dicke Wolldecke dient mir als zweite Haut. Ich habe es mit gemütlich gemacht und lasse mich von zwei Experten über Hektik bequatschen. Das ist Ironie vom Feinsten.
„Guten Morgen, wirst du wohl eine Frühaufsteherin?“, lacht Lucinda, die hinter sich den Staubsauger nachzieht. „Darf trotzdem das Wohnzimmer saugen?“
„Trotz was?“
„Naja ich möchte nicht stören!“
„Ach Quatsch, ich überlege sowieso nach draußen zu gehen…“
„Ich würde aufpassen…“, blinzelt sie mir zu.
„Wieso?“
„Lukas hilft seinem Vater beim Einpflanzen der Blumentröge.“
Oh nein! Ich muss mir etwas Ordentliches anziehen und meine Haare kämmen, ehe ich nur einen Fuß in unseren Garten setze. Wie von der Tarantel gestochen hüpfe ich auf. Dabei schütte ich mein Heißgetränk über den gesamten Schlafanzug. Zum Glück war es bereits abgekühlt, ich spüre dennoch den warmen Striemen, der an mir hinab läuft. Stress. Das musste dieser Stress sein. Das Herz klopft, im Kopf dreht sich alles. Mir wird übel!
„Warte, ich zeige dir was!“, hält sie mich auf. Sie zupft ein wenig an meinen Haaren und bindet sie zu einem Zopf zusammen, vorne streicht sie zwei Strähnen heraus und lässt sie entlang meiner Wange herunterfallen.
„Du ziehst Kleidung an, in der du dich wohlfühlst…“
Ich unterbreche sie: „Nein, ich muss gut aussehen!“
„Lasse mich aussprechen. Du ziehst Kleidung an, in der du dich wohlfühlst und dann tust du so, als würdest du ihm helfen wollen.“
Mit ihren langen Haaren und ihrer dünnen Figur kann sie alles anziehen, sie wird immer gut aussehen. Tipps von ihr kann ich dementsprechend nicht ganz ernst nehmen.
Verdutzt ziehe ich die Augenbrauen nach unten: „Warum sollte ich das?“
„Während man arbeitet kommt man am besten ins Gespräch. Das hast du mir beigebracht!“
Dass sie sich das gemerkt hat, ehrt mich. Doch wie stellt sie sich das vor? Ich gehe zu Lukas, nehme eine Schaufel und helfe ungefragt mit?
Weil ich nicht weiß, wie ich das am schlausten anstellen sollte, frage ich nach: „Wie soll ich ihm mitteilen, dass ich ihm zur Hand gehen möchte?“
„Langweile!“
„Ausgeschlossen! Er soll denken, ich hätte im Alltag wie alle anderen genügend zu tun!“
Wie aus der Pistole geschossen macht sie mir einen neuen Vorschlag: „Soziales Projekt!“
„Nein!“
„Hmmm, ein Gestaltungsprojekt!“
Ich schüttele mit dem Kopf. „Warum soll es sich um ein Projekt handeln?“
Mir fällt zwar selbst nichts Besseres ein, aber ihre Vorschläge überzeugen mich nicht.
„Du studierst!“, äußert sie selbstbewusst und von sich überzeugt, als wäre es bereits ein Fakt.
Während im Fernsehen die zwei Experten weiter über Stress plaudern, bringt mich Lucinda auf ganz neue Gedanken. Ich bin Studentin. Das passt. Deshalb bin ich oft zu Hause, man muss schließlich nicht unbedingt in eine Universität, beziehungsweise reicht meine fiktive Anwesenheit dort an wenigen Tagen.
„Ich studiere“, wiederhole ich laut und überlege das Fach. Lucinda musste Traubenzucker gegessen haben oder in einen Brunnen voller guter Ideen gefallen sein: „Mediengestaltung!“
„Nicht schlecht!“, gebe ich zu. „Wie verkaufe ich ihm das glaubwürdig?“
„Du bastelt am Computer ständig an deinen Fotos, die übrigens sehr künstlerisch aussehen. Du hättest vermutlich tatsächlich das Zeug dazu.“
„Danke!“, grinse ich. Sie denkt, ich könnte Mediengestalterin werden. Lucinda wächst mir unabhängig von den Komplimenten mehr ans Herz. Ihre Tipps sind goldwert und sie ist der einzige Mensch, der stets für mich da ist. Das kann sich Fritzi längst nicht mehr auf ihre Fahne schreiben.
„Aber wie verkaufe ich ihm das glaubwürdig? Irgendwie gibt das noch nicht richtig Sinn?!“
„Du machst, das schon Thea. Aber ich muss jetzt weiterarbeiten!“
„Und danke, dass du mir hilfst!“, füge ich glücklich hinzu und hüpfe beschwingt aus dem Wohnzimmer. Der Staubsauger brummte, vermutlich hörte sie mich gar nicht mehr.
Im aufrechtem Gang steuere ich ohne Umwege auf Lukas zu. Hoffentlich funktioniert mein Plan. Er kniet vor einem Beet am Boden und gräbt konzentriert Blumenzwiebeln ein.
„Darf ich helfen?“, überstürze ich ihn mit meinem Anliegen. Keine Reaktion. Ich gehe einen Schritt näher auf ihn zu und frage erneut: „Darf ich dir behilflich sein?“
Ignoriert er mich? Vielleicht hört er schlecht. Ich beuge mich zu ihm und spreche lauter: „Darf ich dir helfen?“
Blitzartig springt Lukas auf. „Verdammt, musstest das sein?“
Ich gluckse. Zu lustig sah es aus, wie er nach hinten sprang, wodurch die Blumenerde im hohen Bogen über ihn flog und paar Meter weiter hinten im Gras landete. Auch sein Gesicht und sein Hemd sind mit Erdkrümel bedeckt. Er nahm die Kopfhörer ab und wischte sich über die Stirn. „Du findest das also lustig? Na warte!“
Mit beiden Händen gräbt er tief im Beet, holt eine Menge Erde heraus und lässt es von oben herab über mich herunter regnen.
„Gefällt dir das?“, schäkert er. Ich tue es ihm gleich und werfe eine Hand voll zurück. Bevor es in einer Schlacht endet, werden wir von seinem Vater gestört. Begeisterung sieht anders aus!
„Wie sieht es hier denn aus? Was soll das? Lukas! Ich bin enttäuscht von dir!“
Lukas dreht sich zu mir und lächelt mich verschmitzt an. Ich halte inne, obwohl unter meiner Bauchdecke der Lachreiz kitzelt.
„Und du junges Fräulein, mir ist egal, ob du die Tochter des Eigentümers bist. Du bringst das Chaos mit ihm in Ordnung! Ansonsten werde ich mich über dich beschweren!“
Wir warten bis er außer Reichweite ist. Dann ist kein Halten mehr. Wir brechen in lautem Gelächter aus. Er holt tief Luft und verstellt seine Stimme um seinen Vater nachzuäffen: „Junges Fräulein, ich werde mich über dich beschweren!“ Dabei gestikuliert er wie dieser und zieht eine Grimasse. Ich kann kaum atmen, selten habe ich Spaß wie diesen.
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