»Nö, der mauert. Angeblich hatte er schon länger keinen Kontakt mehr zu Amelie. Und für heute Früh hat ihm sein Kollege ein Alibi gegeben. Auch ein Türke. Die halten doch zusammen. Deshalb habe ich so meine Zweifel. Falls die Einzelverbindungsnachweise ergeben, dass er heute mit ihr telefoniert hat, ist er fällig. Und bei dir? Was hast du von der Freundin erfahren?«
»Eine Menge. Sie traut Ali die Tat nicht zu. Aber das heißt ja nichts. Amelie hatte Kontakt zu einer Beratungsstelle für suizidgefährdete Jugendliche. Das ist in Spandau. Wir können gleich hinfahren.«
»Du bist ja heute wieder nicht zu bremsen.«
»Der frühe Vogel fängt den Wurm.«
Valerie zückte ihr Handy und rief Heiko im Präsidium an. Sie nannte ihm Amelies Telefonnummer und den Provider. Heiko sollte umgehend einen Einzelverbindungsnachweis einholen.
»Kommt ihr heute auch noch mal ins Büro?«, fragte Heiko.
»Mit Sicherheit. Jetzt geht‘s erst mal nach Spandau. Falls du Sehnsucht hast, wir sehen uns doch heute Abend. Und wenn dir langweilig ist, schnapp dir ein paar alte, ungelöste Fälle. Damit kannst du bei dem Alten immer punkten.«
»Danke für den Tipp. Wäre ich von allein gar nicht drauf gekommen. Dann bis später!«
Das sogenannte Café stellte sich dann als recht groß heraus, denn neben der Begegnungsstätte gab es noch weitere Räume wie Versammlungszimmer oder Einzelberatungsräume. Ein paar blasse, niedergeschlagen dreinblickende Jugendliche waren auch anwesend. Vereinzelt liefen Frauen herum, die Zoe so treffend als öko bezeichnet hatte. Ungeschminkt und nachhaltig gekleidet. Eine von ihnen sprach Valerie an.
»Kann ich behilflich sein?«
»Ja, wir möchten zu Michael. Einen Nachnamen haben wir leider nicht.«
»Das macht nichts. Wir haben nur einen davon. Ich guck mal, ob ich ihn finde. Möchten Sie einen Moment Platz nehmen?«
»Nein, wir haben gerade erst im Auto gesessen.«
Kurz darauf kam ihnen ein etwa Dreißigjähriger mit blonden, etwas längeren Haaren entgegen, der nicht nur gewinnend lächelte, sondern auch über eine gewisse Ausstrahlung verfügte, wie Valerie feststellte und Konstantin später neidlos zugab.
»Können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?«, fragte Valerie.
»Ja, bitte kommen Sie in mein Büro.«
Valerie und Konstantin stellten sich vor und zeigten ihre Dienstausweise. Dann kam Konstantin gleich zur Sache, indem er dem Mann ein Foto von Amelie auf seinem Handy präsentierte.
»Kennen Sie dieses junge Mädchen?«
»Könnte sein, dass die mal hier war.«
»Mit ziemlicher Sicherheit. Ihre Freundin meint, sie einmal hier abgeholt zu haben. Ihr Name ist Amelie Herwig.«
»Ja, ich erinnere mich. Ich fand den Namen sehr passend, denn sie schien ebenso in ihrer eigenen Welt zu leben wie die junge Frau aus dem Film „Die fabelhafte Welt der Amélie“.«
»Ihre Freundin, Zoe, die Amelies Mutter als Gruftie bezeichnet, weil sie nur in Schwarz herumläuft, meint, Amelie wäre völlig in Sie vernarrt gewesen, bis Sie ihr wohl unmissverständlich klargemacht hätten, dass es in dieser Beziehung keine Zukunft gäbe. Daraufhin sei sie nicht mehr hergekommen.«
»An die Freundin kann ich mich nicht erinnern. Vielleicht hat sie draußen gewartet. Ja, es kommt in der Tat gelegentlich vor, dass sich die Mädchen in einen unserer Mitarbeiter verlieben. Das ist wie bei Therapeut und Patientin. Es erfordert viel Fingerspitzengefühl, denn der Leidensdruck der Ratsuchenden soll ja nicht noch verschlimmert werden. Mir ist nicht aufgefallen, dass sie tiefere Gefühle für mich gehegt haben soll. Entweder sie hat es sehr gut verborgen, oder die Freundin hat etwas übertrieben.«
»Warum dann die Zurechtweisung?«
»Auch die ist mir nicht in Erinnerung. In diesen _Fällen drücken wir uns eher allgemein aus und werden von den Hilfesuchenden meist verstanden.«
»Worin besteht in der Hauptsache Ihre Arbeit? Ich stelle es mir äußerst schwierig vor, einem jungen Menschen, der nicht mehr leben will, vom Gegenteil zu überzeugen.«
»Das ist in der Tat nicht einfach und überwiegend ein langwieriger Prozess. Mein Studium in Psychologie und meine Erfahrung als Sozialpädagoge ist mir dabei dienlich. Meine Überzeugung ist, dass man junge Menschen mit einem entsprechenden Angebot wieder auf die Seite des Lebens bringen kann – alleine dadurch, dass man ihnen zuhört, sie ernst nimmt und das Thema Suizid nicht tabuisiert. Ihnen im Gegenteil dabei hilft, sich damit gründlich und bewusst auseinander zu setzen. Man muss den Jugendlichen die Möglichkeit geben, offen und angstfrei über alles zu reden. Damit kann man schon viel erreichen. Viele kommen aus zerrütteten Familien oder die Eltern können ihre eigenen Ängste nicht überwinden und blocken gleich ab.«
»Das hört sich in der Theorie alles sehr gut an, aber bei Amelie scheinen Ihre Bemühungen vergeblich gewesen zu sein. Sie ist heute Morgen aus dem Fenster gestürzt. Noch steht zwar nicht fest, ob es vorsätzlich geschehen ist, oder ob ihr das jemand angetan hat, aber wir können die Möglichkeit, dass sie freiwillig aus dem Leben geschieden ist, leider nicht ausschließen. Einen Unfall hingegen schon.«
»Das tut mir leid. Es gibt allerdings keine Garantie bei unserer Arbeit. Eine Chance auf Erfolg besteht nur, wenn der Betroffene die Bereitschaft hat, Hilfe anzunehmen. Bei jedem Menschen liegt die Grenze individuell hoch, bei der das für ihn noch ertragbare Leid überschritten ist. Wo er keinen anderen Ausweg mehr sieht als den Suizid. Aber es gibt Hoffnung. Laut einer Statistik ist die Zahl der Suizide rückläufig. Um immerhin 1,3 Prozent. Waren es im Jahre 1983 noch 24 Menschen pro 100.000 Einwohner, erfasste man im Jahre 2003 nur noch 14. Wobei es fast doppelt so viele Männer wie Frauen waren. Und die Tendenz ist steigend. Wer hätte das gedacht?«
»Ja, das Bild des starken Mannes wird unweigerlich erschüttert. Und die Entwicklung schreitet schon seit Jahren fort«, sagte Valerie und kassierte dafür einen schrägen Blick von Konstantin. »Ich wünsche Ihnen und Ihrer Arbeit weiterhin Erfolg.«
»Danke, wir tun unser Bestes.«
»Was hältst du von dem Knaben?«, fragte Valerie auf dem Weg zum Wagen.
»Knabe? Ziemlich ältlicher Knabe, würde ich sagen. Ich finde es gut, dass es solche Einrichtungen gibt, habe aber das Gefühl, sie kämpfen ebenso wie wir gegen Windmühlenflügel.«
»Etwas mehr Optimismus, bitte, Herr Kollege. Sonst können wir gleich das Handtuch werfen.«
»Wenn du meinst ...«
Im Präsidium hatte Heiko teils gute und teils schlechte Nachrichten, als Valerie und Konstantin zurückkamen.
»Amelie Herwig hat in den letzten Tagen öfter mit derselben Rufnummer telefoniert. So auch heute Morgen. Das letzte Mal kurz vor ihrem Tod. Die Funkzelle befand sich immer in Wilmersdorf. Das Handy ist allerdings nicht registriert und wird vermutlich durch eine Prepaid Karte gespeist. Dazu ist eine Rückverfolgung nicht möglich«, berichtete Heiko.
»Damit ist Ali Keskin aus dem Schneider«, meinte Konstantin. »In der Kürze der Zeit hätte er kaum nach Wilmersdorf fahren können. Mist, ich war mir fast sicher, dass er Dreck am Stecken hat.«
»Nun wein mal nicht«, sagte Valerie. »Offensichtlich handelt es sich doch um Suizid und nicht um Mord. Denn für den Unbekannten gilt das Gleiche in Punkto Fahrzeit wie für Keskin. Das Einzige, was mit dabei nicht schmeckt, ist, dass es diesen Unbekannten überhaupt gibt. Amelie scheint ihn absolut geheimgehalten zu haben, sogar vor ihrer besten Freundin, Zoe.«
»Glaubst du, er könnte das Mädchen durch Gedanken- oder Überzeugungskraft zu ihrer Verzweiflungstat gebracht haben?«, fragte Konstantin.
»Das ist etwas, das wir nicht ausschließen können. Es gibt solche Schweine, deren Einfluss man sich kaum entziehen kann. Schon gar nicht ein sechzehnjähriges Mädchen. Wir werden es wohl nie herausfinden. Es sei denn, er macht weiter.«
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