„Die Diebin hat die Hände zurückgebracht, weil es einen Fehler gab“, schaltete sich Cassandra ein.
Die Detektivin verzog das Gesicht, als ob sie in eine saure Zitrone gebissen hätte.
„Was für einen Fehler? Meinst du, sie hat die falschen gestohlen? Unsinn. Die Dame kann doch bestimmt lesen. Aber…“ Einen Moment lang wollte sie weiterreden, stattdessen hielt sie inne und horchte.
Daniel hatte eine spezielle Art, die Türglocke zu läuten. Er entlockte dem Teil einen unverkennbaren Sound, der sie an die Kindheit im Rocky-Mountain-Nationalpark erinnerte. Es waren die Geräusche des Waldes. Eine Mischung aus dem Summen der Bienen, dem Klopfen des Spechts und dem nächtlichen Ruf des Käuzchens.
Unruhe stieg in ihr auf. Gab es eigentlich einen vernünftigen Grund, warum sie überhaupt diese merkwürdige Beziehung zu ihm hatte? Nein, sie musste die Frage anders stellen. Warum hatte Daniel diese merkwürdige Beziehung zu ihr? Junge, gesunde, außergewöhnlich hübsche Männer fühlen sich normalerweise nicht verkrüppelten Frauen nah. Vielleicht lag es daran, dass ungefähr fünfzig Prozent ihres Charakters mit seinem übereinstimmte. Sie waren genau gleich. Würde man es in einer Sinuskurve darstellen, könnte man keine Abweichung feststellen. Bei den anderen fünfzig Prozent sah das anders aus. Ihre Charaktere liefen komplett gegeneinander. Die Kurven waren 180° phasengedreht. Sie löschten sich sozusagen gegenseitig aus.
Inzwischen hatte ihr Hausroboter Cleabo die Tür geöffnet. Daniel stürmte auf sie zu und drückte sie fest an sich. Wie immer genoss sie es.
„Meine Fresse, siehst du wieder gut aus! Na ja, ein bisschen zermatscht vielleicht“, scherzte er strahlend.
„Was hast du herausgefunden?“, versuchte sie sein Geplänkel zu verdrängen.
Er setzte sich zu ihr und erklärte, dass in diesen Tagen keine einzige Transplantation von Händen in der Stadt geplant war. Zwar hatte Albert van Beeren tatsächlich letzte Woche zwei neue Arme, mit Händen, und einen neuen Fuß bekommen, aber die Züchtungen kamen aus seinen eigenen umprogrammierten Stammzellen. Sie hatten die Gliedmaßen auf dem Rücken von Schweinen wachsen lassen. Daniel verzog, um seine Aussage zu unterstützen, angeekelt das Gesicht.
„Zum Glück waren es keine Nachkommen von abgehauenen Schlachtschweinen. Diese Viecher werden riesig. Seine neuen Arme hätten sonst die doppelte Länge im Vergleich zu den alten." Daniel kickste wie ein kleines Schulmädchen, das seinen ersten Witz erzählt.
Die Detektivin schickte Albert von Beeren ins Reich des Vergessens und dachte über etwas anderes nach. „Wie lange dauert es eigentlich, eine Operation für eine fremde Hand vorzubereiten?“
„Keine Ahnung. Frag mal das Professörchen!“
„Nenn ihn bloß nicht so, wenn er dabei ist“, warnte Tini und aktivierte die Bildleitung erneut.
Asbury saß glücklicherweise nach wie vor an seinem Schreibtisch. Ausgiebig erklärte er die Operationsvorbereitung, die für eine erfolgreiche Transplantation notwendig war. Zuerst benötigte man die Stammzellen aus dem Knochenmark des Patienten und die fremde Hand. Danach wurden die Stammzellen in die Blutzellen gepackt und in das Immunmuster der Hand eingeschleust. Das wunderbarste für ihn war, dass es dabei keinerlei Abstoßungsreaktion des Transplantats gab. Früher musste der Patient schließlich sein restliches Leben lang Immunsuppressiva mit unkalkulierbaren Nebenwirkungen einnehmen. Als er sich ausgiebig darüber freute, dass die Kliniken Transplantate so lange lagern konnten, wie sie wollten, riss Tini der Geduldsfaden.
„Schweif nicht ab, Asbury!“, rief sie ihn zur Ordnung.
Der Professor erklärte, dass die Transplantation nach dem Einschleusen jederzeit stattfinden konnte. Direkt nach der Operation übergab man dann den Patienten einer Leitstelle, die ihn bis zur Ausheilung mobil überwachte.
„Das heißt, der Arzt benutzt den Operationssaal für eine sehr kurze Zeit. Wie viele Leute braucht er?“, hakte die Detektivin nach.
Der Professor rieb sich seinen Bart. „Das Transplantationsteam besteht aus sieben Leuten. Das können natürlich auch Roboter sein“
Gedankenverloren beendete sie die Bildleitung und wendete sich an Daniel. „Gibt es in New York überhaupt einen passende Chirurgen, einen Patienten und eine Klinik? Und wenn nicht, warum wurden dann die Hände gestohlen? Nein, anders. Warum wurden die falschen Hände gestohlen?“
„Keine Ahnung. Ich habe keine Zeit mehr darüber nachzudenken. Ich muss weiter fliegen. Adieu, geliebtes Haus.“
Daniel breitete die Arme aus und segelte, ohne sich noch einmal umzudrehen, davon.
Am Abend schnarrte Cassandra unaufhörlich. „Informationen, Informationen, Informationen.“
Fast hätte man glauben können, Tini wäre nicht nur verkrüppelt, sondern auch noch schwerhörig. Sie hatte tatsächlich viele Probleme, die Ohren gehörten nicht dazu. Sie arbeiteten ausgezeichnet.
„Ich bin so voll mit Informationen. Ich platze gleich!“, ächzte die Maschine.
Das war ein typischer Bernie Tucker Scherz. Der Rechner hatte mehr als genug freien Speicherplatz.
„Ich rufe alles ab, wenn ich zurück bin“, sagte die Detektivin abweisend. Sie verließ das Arbeitszimmer, fuhr ins Bad und ließ sich von Cleabo ausgehfertig machen. „Rot“, rief sie.
Rot nahm sie eigentlich nur zu besonderen Anlässen. Das war zwar heute nicht der Fall, trotzdem wollte sie auffallen. Es war durchaus wichtig, sich bei gut betuchten Menschen ins Gespräch zu bringen.
Cleabo verpasste ihren Haaren einen weinroten Ton, der von silbernen Strähnchen unterbrochen wurde. Hemd und Anzug – sie trug stets einen Anzug, denn sonst hätte man zu viel von den verkrüppelten Beinen gesehen – waren dunkelblau.
„Einen wunderschönen guten Abend, Miss Tucker.“ Tipsi verbeugte sich so tief, dass sie seinen Poansatz sehen konnte.
Seine mit Goldschnüren verzierte Jacke rutschte nach oben, seine Hose nach unten.
Das erzeugte jedes Mal ein Lächeln bei ihr. Natürlich wusste sie nur zu genau, dass seine weiblichen Fahrgäste mehr als bereit waren, für diesen Anblick das Trinkgeld des Liftboys anzuheben. Es stieg überproportional mit der Länge des Ansatzes.
„Auf zur Arrowhead-Bar!“, rief Tipsi, der eigentlich Tipsarevic hieß. Niemand machte sich mehr die Mühe, lange oder komplizierte Namen auszusprechen.
„Wollen Sie den wunderschönen Sonnenuntergang genießen, Miss Tucker? Heute wird er geradezu fantastisch sein.“
„Was interessiert mich der Sonnenuntergang? Das ist etwas für Verliebte. In dieser Bar muss man etwas für sein Image tun, dass wissen Sie doch wohl am Allerbesten.“
Tini grinste und Tipsi grinste zurück.
Die Arrowhead-Bar lag im 99. Stock des Bo-Buildings. Sie lebte seit fünfzehn Jahren in diesem Haus und seit dieser Zeit war die Bar der Inbegriff des New Yorker Nachtlebens. Wollte man die neuesten Gerüchte hören, die heißesten Stars aus Show oder Politik sehen, oder einfach milliardenschwere Leute treffen, hier war der Ort.
Tipsi riss die altmodische Fahrstuhltür, die man eingesetzt hatte, um die Extravaganz der Bar zu unterstreichen, krachend auf. Langsam rollte sie auf die Bar zu.
Plötzlich stoppten die Räder. Im ersten Moment glaubte sie es wäre ein technischer Defekt. Doch jemand, der sich hinter ihr befand, hielt den Rollstuhl fest. Der Mann trat vor. Man konnte ihn getrost als Muskelpaket beschreiben. Ohne ein Wort zu verlieren, zeigte er auf einen Tisch am Fenster. Es dauerte einen Augenblick, bis es ihr dämmerte.
Ronan Sommers winkte sie heran. Das hieß nichts Gutes. Bestimmt kam er mit dem dämlichen Bürgermeistermord, mit dem sie aber auch gar nichts zu tun haben wollte. Natürlich hörte sie ihm brav zu, schließlich war er ein sehr mächtiger Mann und sie freiberuflich tätig.
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