Während alle noch herzlich über die Bemerkung Dienels lachten, krabbelte Jessica zum nahe stehenden Sessel, zog sich daran herauf, ging, noch etwas wackelig mit ihren kleinen Beinchen, zielstrebig zur Spielecke zurück, trat vor den von Marc gebauten Turm aus Bauklötzen und gluckste vor Vergnügen, als dieser in sich zusammenfiel.
Dienstag, 24. August 1976
Die vergangenen fünf Jahre verliefen ohne nennenswerte Vorkommnisse. Jessica wuchs behütet vom Vater und von der Oma auf, da Mutter und Sohn ihre besondere Aufgabe zu meistern wussten. Sicherlich wurde Jessie auch mal krank oder versuchte, ihren Kopf durchzusetzen. Aber das alles war nichts, was nicht auch in anderen Familien vorkam und was mit einer Mutter an Omas Stelle nicht passiert wäre. Es gab auch schon mal aufgeschlagene Knie oder Streitereien im Kindergarten, aber die waren mit dem blonden Marc, der mit Jessica zur gleichen Gruppe gehörte, nicht häufiger als mit anderen Kindern auch. Einen Vorfall wie den zu ihrem ersten Geburtstag gab es nicht mehr und es wurde auch nicht mehr darüber gesprochen.
Heute nun, zwölf Tage nach Jessicas sechstem Geburtstag, sollte sie eingeschult werden. Durch ihren Geburtstag im August war sie die Jüngste der einzuschulenden Kinder. Die notwendige Reife für diese frühe Einschulung wurde ihr jedoch vom zuständigen Amtsarzt bescheinigt.
Horst, der in den letzten Jahren schon erfolgreich an seiner Beamtenkarriere gearbeitet hatte und insgesamt so ausgeglichen war, dass er sich an der einen oder anderen Beziehung versucht hat, hatte natürlich zu diesem besonderen Tag Urlaub und führte, in Begleitung von Rosemarie, seine Tochter stolz zur Joachimschule. Aufgeregt und voller Erwartung, gekleidet in einem hübschen Sommerkleidchen und ihre große Schultüte fest im Arm, saß Jessie nun zwischen Papa und Omi gemeinsam mit den anderen Kindern und Erwachsenen in der für diese Veranstaltung umfunktionierte Turnhalle der Schule und schaute gebannt nach vorne, wo die „Großen“, also die Viertklässler, ein Theaterstück für die neuen Kinder zur Begrüßung aufführten. Anschließend sprach noch die Schulleiterin ein paar Sätze, die aber wohl mehr an die Eltern als an die Kinder gerichtet waren, denn Jessica verstand nicht so ganz, wovon die Frau da vorne gesprochen hat. Da war vom „Ernst des Lebens“, von „schweren Aufgaben“ und von einem „neuen Lebensabschnitt“ die Rede. Für Jessie und die anderen Kinder ging es doch nur darum, Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen. War da noch mehr, was die Erwachsenen bisher noch nicht gesagt hatten?
Um diesen wichtigen Tag gebührend zu feiern, traf man sich am Nachmittag noch mit Ramona Hohberg und Marc in Horsts Wohnung. Es gab zunächst Kaffee und Kuchen und gegen Abend noch das Lieblingsessen der Kinder, Bockwürstchen mit Kartoffelsalat.
Das Leben ging weiter, mit all seinen Höhen und Tiefen. Horst und seine Mutter arrangierten sich perfekt, so dass Jessica auch ohne Mutter wohlbehütet aufwachsen konnte. Manchmal hat das Kind gefragt, wo denn seine Mutter sei, die anderen Kinder erzählten doch auch immer wieder mal von Mama und Papa. Doch sowohl Vater und Großmutter fanden in diesen Situationen immer wieder die passenden tröstenden Worte, so dass die Kleine trotz ein paar Tränchen am Ende immer wieder versöhnt beruhigt war. Horst arbeitete zielstrebig an seiner Karriere im Amt und auch Rosemaries Befürchtung, ihm würde auf Dauer eine Frau fehlen, hatte sich nicht bewahrheitet. Manchmal nahm er sich am Wochenende eine „Auszeit“, wie er es nannte, und gab das Mädchen zur Oma, um ein Wochenende für sich allein zu haben. Wenn er das Kind dann am Sonntagabend wieder abgeholt hat, war er besonders gut gelaunt und ausgeglichen. Rosemarie hat ihn dann niemals gefragt, was er denn gemacht habe und wo er war; das war auch nicht notwendig, sie konnte es sich schon denken. Wie sagte sie damals noch? „Du bist doch schließlich ein Mann.“ Sie war über diese Entwicklung froh, denn diese freien Wochenenden kamen letztlich doch wieder Jessica zu Gute, war doch ihr Vater wieder ganz für sie da.
Auch Rosemarie war zufrieden. Horst ließ ihr genügend Freiraum, dass ihr die Doppelrolle als Oma und Ersatzmutter nicht über den Kopf wuchs. Auch ihr wurde die Gelegenheit gegeben, dass sie zwischendurch mal für eine Woche alleine in den Urlaub fahren konnte. Horst war dann zu Hause, was Jessica und er dann ganz besonders genossen. Zwischendurch fuhren auch alle drei gemeinsam in den Urlaub, damit Jessica auch einmal etwas anderes sehen konnte und dies vor allem auch ihren Schulkameraden berichten konnte.
Und so ging das Leben eben weiter, mit all seinen Höhen und Tiefen. Man hätte es fast als „langweilig“ bezeichnen können, wenn dieser Tag im Oktober 1983 anders verlaufen wäre, als er dann verlaufen ist…
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