Titelseite Meister Eckhart Predigten Übertragung aus dem Mittelhochdeutschen von Gustav Landauer
Vom Schweigen
Vom Unwissen
Von der Dunkelheit
Von stetiger Freude
Von der Stadt der Seele
Vom namenlosen Gott
Vom innersten Grunde
Von der Vollendung der Zeit
Ein Zweites vom namenlosen Gott
Von guten Gaben
Von unsagbaren Dingen
Vom Leiden Gottes
Von der Einheit der Dinge
Wie Jesus am Stricke zog
Von der Erkenntnis Gottes
Von der Armut
Von Gott und der Welt
Von der Erneuerung des Geistes
Von der Natur
Von Gott und Mensch
Vom Tod
Was ist Gott?
Vom persönlichen Wesen
Von den Stufen der Seele
Gespräch zwischen Schwester Kathrei und dem Beichtvater
Von der Abgeschiedenheit
Von der Überfreude
Die Seele auf der Suche nach Gott
Von der Überfahrt zur Gottheit
Vom Zorn der Seele
FRAGMENTE UND SPRÜCHE
Impressum
Meister Eckhart
Predigten
Übertragung aus dem Mittelhochdeutschen
von Gustav Landauer
Wir begehen das Fest von der ewigen Geburt, die Gott der Vater geboren hat und ohne Unterlass in der Ewigkeit gebiert, während dieselbe Geburt jetzt in der Zeit und in der Menschennatur sich ereignet. Der heilige Augustin sagt, diese Geburt geschehe immer. So sie aber nicht in mir geschieht, was hilft es mir dann? Denn dass sie in mir geschehe, daran liegt alles.
Wir haben ein Wort des Weisen: »Da alle Dinge mitten im Schweigen waren, da kam in mich von oben hernieder von dem königlichen Stuhle ein verborgenes Wort.« Von diesem Wort soll diese Predigt handeln.
»Inmitten des Schweigens ward mir zugesprochen ein verborgenes Wort.« Ach, Herr, wo ist dies Schweigen, und wo ist die Stätte, in der dieses Wort gesprochen wird?
Es ist in dem Lautersten, das die Seele aufweisen kann, in dem Edelsten, in dem Grunde, ja in dem Wesen der Seele! Das ist das Mittel: Schweigen; denn da hinein kam nie eine Kreatur oder ein Bild, und die Seele hat da nicht Wirken noch Verstehen und weiß kein Bild davon, weder von sich selbst noch von irgendwelcher Kreatur.
Alle Werke, die die Seele wirkt, wirkt sie mit den Kräften. Alles, was sie versteht, versteht sie mit der Vernunft. Wenn sie denkt, tut sie es mit dem Gedächtnis. Wenn sie begehrt, tut sie es mit dem Willen, und dergestalt wirkt sie mit den Kräften und nicht mit dem Wesen. All ihr Wirken nach außen haftet immer an einem Mittel. Die Kraft des Sehens bewirkt sie nur durch die Augen, anders kann sie kein Sehen bewirken oder zu Stande bringen. Und ebenso ist es mit allen andern Sinnen. All ihr Wirken nach außen bewirkt sie durch ein Mittel. Aber in dem Wesen ist kein Werk, daher hat die Seele im Wesen kein Werk als die Kräfte, mit denen sie wirkt. Die fließen aus dem Grunde des Wesens, oder vielmehr: In diesem Grunde ist das Mittel Schweigen, hier ist allein Ruhe und eine Wohnung für diese Geburt und für dieses Werk, dass Gott der Vater allda sein Wort spreche, denn dieses ist von Natur nur dem göttlichen Wesen ohne irgendein Mittel zugänglich. Gott geht hier in die Seele mit seinem Ganzen, nicht mit seinem Teil. Gott geht hier in den Grund der Seele hinein. Niemand rührt an den Grund der Seele als Gott allein. Die Kreatur kann nicht in den Grund der Seele, sie muss in den Kräften außen bleiben. Da mag sie ihr Bild betrachten, mit Hilfe dessen sie eingezogen ist und Herberge empfangen hat. Denn jedes Mal, wenn die Kräfte der Seele mit der Kreatur in Berührung kommen, nehmen und schöpfen sie Bilder und Gleichnisse von der Kreatur und ziehen sie in sich. Auf diese Weise entsteht ihre Kenntnis von der Kreatur. Die Kreatur kann nicht näher in die Seele kommen, und die Seele nähert sich jeder Kreatur nur dadurch, dass sie zunächst willig in sich ein Bild empfängt. Und von dem gegenwärtigen Bild aus nähert sie sich den Kreaturen, denn das Bild ist ein Ding, das die Seele mit den Kräften schöpft. Mag es ein Stein, ein Pferd, ein Mensch oder was immer sonst sein, das sie kennen lernen will, immer nimmt sie das Bild hervor, das sie von ihnen abgezogen hat, und auf diese Weise kann sie sich mit ihnen vereinigen. Aber immer, wenn ein Mensch auf diese Weise ein Bild empfängt, muss es notwendigerweise von außen durch die Sinne hereinkommen. Darum ist der Seele kein Ding so unbekannt wie sie sich selbst. Es sagt ein
Meister, die Seele könne von sich kein Bild schöpfen oder abziehen. Darum kann sie sich selbst ganz und gar nicht kennen lernen. Denn Bilder kommen alle durch die Sinne herein: Daher kann sie kein Bild von sich selbst haben. Daher kennt sie alle andern Dinge, nur sich selber nicht. Von keinem Ding weiß sie so wenig wie von sich selbst um des Mittels willen. Und das müsset ihr auch wissen, dass sie innen frei ist und ohne alle Mittel und Bilder auskommt, und das ist auch die Ursache, dass sich Gott frei mit ihr vereinigen kann ohne Bilder oder Gleichnisse. Du darfst das nicht lassen, du musst die Möglichkeit, die du einem Meister zugestehst, Gott ohne alle Schranken zugeben. Je weiser aber und mächtiger ein Meister ist, umso unmittelbarer geschieht auch sein Werk und umso einfacher ist es. Der Mensch hat viele Mittel in seinen äußern Werken; bis er diese Werke hervorbringt, wie er sie in sich gebildet hat, dazu gehört viel Vorbereitung. Die Meisterschaft und das Werk des Mondes und der Sonne sind Erleuchten; das tun sie gar schnell. Sobald sie ihren Schein ausgießen, in demselben Augenblick ist die Welt an allen Enden voller Licht. Aber über ihnen ist der Engel, der bedarf noch weniger der Mittel für seine Werke und hat auch weniger Bilder. Der alleroberste Seraphim hat nur noch ein Bild. Alles, was die unter ihm Stehenden in Mannigfaltigkeit wahrnehmen, nimmt er in einem wahr. Aber Gott bedarf keines Bildes und hat auch kein Bild: Gott wirkt in der Seele ohne alles Mittel, Bild oder Gleichnis, ja, tief in dem Grunde, wo nie ein Bild hinkam als er selbst mit seinem eigenen Wesen. Das kann keine Kreatur tun.
Wie gebiert Gottvater seinen Sohn in der Seele? Wie die Kreaturen tun, in Bildern und in Gleichnissen? Wahrlich nein!, sondern: ganz in der Weise, wie er in der Ewigkeit gebiert, nicht minder und nicht mehr. Ja freilich, wie gebiert er da? Merket auf. Seht, Gottvater hat eine vollkommene Einsicht in sich selbst und ein abgründliches Durchkennen seiner selbst ohne jedes Bild.
Und so gebiert Gottvater seinen Sohn in wahrer Einsicht göttlicher Natur. Seht, in derselben Weise und in keiner andern gebiert Gott der Vater seinen Sohn im Grunde der Seele und in ihrem Wesen und vereinigt sich also mit ihr. Denn wäre da irgendein Bild, so wäre keine wahre Einheit da, und an der wahren Einheit liegt all ihre Seelheit und Seligkeit.
Es kann gefragt werden, ob diese Geburt besser im Menschen geschehe und vollbracht werde, wenn er sein Werk tue und sich so in Gott hineinbilde und hineindenke oder wenn er sich in einem Schweigen oder in einer Stille und einer Ruhe halte und so Gott in ihm spreche und wirke, wenn er also allein auf Gottes Werk in ihm warte?
Ich weise darauf hin, meine Reden und Werke sind allein guten und vollkommenen Menschen gewidmet, in denen vor allem das würdige Leben und die edle Lehre unseres Herrn Jesu Christi lebendig ist. Die sollen nun erfahren, dass das Allerbeste und Alleredelste, wozu man in diesem Leben kommen kann, das ist, dass du schweigest und Gott allda wirken und sprechen lässest. Wo alle Kräfte von allen ihren Werken und Bildern abgezogen sind, da wird dies Wort gesprochen. Darum sprach er: »Mitten im Schweigen ward zu mir das heimliche Wort gesprochen.« Und darum, so du alle Kräfte allermeist einziehen kannst und in ein Vergessen aller Dinge und ihrer Bilder geraten, die du je in dich zogst, und je mehr du der Kreatur vergissest, umso näher bist du diesem und umso empfänglicher.
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