Rita läuft bis zur Mitte des Dorfes und den kleinen grünen Schildern nach, die für Touristen angebracht sind. Hier im Luch bekommt sie den wohl treffendsten Eindruck, wie die Gegend vor wenigen Jahrzehnten einmal ausgesehen hat. Eine kleine Holzbrücke ächzt in den Morgen. Der Wind reibt am trockenen Schilf, dass es schauerlich tönt. Aber sonst ist es sehr friedlich hier am Luch. Nur vereinzelt sind die Ufer Land unter. Das Wasser blitzt mal hell auf, mal liegt es dunkle wie Tinte im Schatten der Bäume. Ein Zugvogelschwarm schwingt am hohen Himmel, wiegt mal rechts mal links, und alle Tiere wiegen zugleich, als treibe sie eine unsichtbare Kraft in einer vertrauten Spur. Wie die Dörfler, denkt Rita, und hat mit einem Mal ein kleines Sehnen nach gleichem Schwingen in ihrem Leib.
Von hoch oben dringt das Schnattern bis hier herunter. Gänse also, denkt sie. Die Gänse kommen zurück.
Nach zwei Stunden kommt auch Rita zurück auf ihren Hof. Schon von weitem sieht sie, wie sich Jens Jedro in ihrem Vorgarten zu schaffen macht.
»Was wollen Sie hier?«
Sie klopft sich den Tau von der Jacke und denkt, guten Morgen hätte sie wenigstens sagen können. Jetzt holt sie es auch nicht mehr nach.
»Das sollten Sie doch wissen. «
Die braunen Leichen der Lebensbäume liegen samt Wurzelballen im Gras und eine Leiter steht am Kirschbaum neben der Sommerküche. Unter dem Baum liegt loses Geäst.
»Was gehen Sie meine Bäume an?«
»Das habe ich mich auch schon gefragt. Aber es ist … es war der Wunsch der alten Dame, die bis zum Winter hier gewohnt hat.«
Bis zum Winter waren die Lebensbäume noch grün, denkt sie. Es war ihr ohnehin unheimlich, dass zwei von ihnen mit ihrer Großmutter gestorben sind. Geradezu unheimlich. Aber kann sie beschwören, was sie da glaubt?
»Wer ’s glaubt wird selig«, sagt sie, von ihrer Großmutter-Wehmut überrumpelt.
»Dann haben Sie die alte Dame offenbar nicht gekannt.«
»Offenbar. «
»Offenbar wissen Sie so vieles nicht, was man als Spreewaldbewohner durchaus wissen sollte.«
»Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel etwas über den Landstrich, auf dem Sie hier leben.«
»Wussten Sie schon alles, als Sie hier her kamen? «
»Ziemlich. Ich habe schon in meiner Heimat so etwas wie Slawenforschung betrieben. Der Norden war einst dicht besiedelt von Slawenstämmen, aber nirgendwo haben die sich so behauptet, wie hier in der Lausitz.«
Aha. Jedro, der Kern, ist wirklich slawisch.
»Woher kommen Sie genau?«
Jens hält von seiner Arbeit inne und beäugt das kleine Bäumchen, für das er nur eine kurze Trittleiter braucht, um sogar die Spitze zu beschneiden.
»Und Sie selbst?« Er hebt die Hand und lässt beinahe die Baumschnittschere fallen. »Sorry. Ich weiß, es geht mich nichts an.«
»Genau. Und das ist die Geschichte hinter der Geschichte. Es geht Sie nichts an. «
»Gut. Ich will Sie auch nicht belehren, aber sie sollten wissen, dass die Menschen hier - anstatt selbstbewusst für ihre Gleichberechtigung einzustehen - noch immer mit einem Schuldbewusstsein leben, das man ihnen Jahrhunderte eingebläut hat. Dabei haben die Wenden ein längeres Recht, hier zu leben, als Sie und ich und jeder andere. Auf der Insel Rügen habe ich als Kind zum ersten Mal die Reste einer uralten Slawenburg gesehen – nicht so pompös nachgestaltet, wie die in Raddusch. Daneben steht auch die vierköpfige Gottheit der Slawen in Holz geschlagen; Swantewit. Kennen sie den?«
»Sollte ich?«
»Es kann nicht schaden. Die Völker, die es heut noch gibt, haben sich behaupten müssen gegen die Nemcy, die Deutschen, trotz Kaiserreich, trotz Diktator und trotz Kommunisten. Im Kaiserreich galten sie als unterentwickeltes, kriegerisches Einwanderervolk, hatten kaum Rechte. Bei Hitler wurden sie unverhohlen geächtet. Und die Kommunisten haben mit Engelszungen geredet, aber den Bauern das Feld unterm Arsch weg verstaatlicht. Damals wie heute wurden die Wenden von ihrem Land vertrieben, um es für die Kohle umpflügen zu können. Ganze Dörfer haben die ausradiert; alles zum Besten der Menschen. Barone gibt es nicht mehr, aber Kohlebarone haben sich neu etabliert. Das neue Recht zur Vernichtung unserer Dörfer hat jetzt der alte Schwede geerbt. Der alte Schwede Vattenfall. Und keiner traut sich, aufzumucken. Das Sagen haben einfach zu viele Fremde.«
Solange er redet, betrachtet Rita ihre verschmutzten Gummigaloschen. Jetzt schlurft sie missmutig durch das feuchte Gras und zieht die lose Erde von den Sohlen.
»Schon gut. Verstehe. Ich sag ja gar nichts mehr.«
Jens Jedro schaut ihr geradewegs ins Gesicht. Viel zu lange für einen Mann seines Wesens.
»Die Alten haben Angst, dass sie kurz davor stehen, etwas ganz Wertvolles zu verlieren – ihre Kultur und ihre Sprache. Letzteres ist beinahe schon ausgestorben. «
Er krault sein Kinn verlegen. Rita hält seinem Blick stand, aber lange zu schweigen gelingt ihr nicht:
»Ich weiß nicht, was es heißt, aber im Dorf sagt man Mispagel — oder so ähnlich — wenn man mich sieht. Warum sagen Sie es nicht?«
»Das sagt nicht das Dorf. Das sagt Lenka Kalauke. Und wenn sie das sagt, dann steckt etwas ganz Gewisses dahinter …«
»Ach! Etwas ganz Gewisses also? « Rita schlägt abwechselnd jeden Fuß kräftig gegen die Betonstufe am Eingang. »Die Abtrünnigkeit von der Sippenwirtschaft wohl? Mir muss hier keiner was erzählen. Eine Krähe pickt der anderen kein Auge aus …. Ach was soll’s. «
Jens Jedro zieht den Kopf tief in den Kragen, klappt die Leiter zusammen und rück sie zum nächsten Bäumchen – einem Pfirsichbaum mit spärlichem Geäst.
»Sippschaft oder nicht. Man muss zusammenhalten oder zusammen untergehen. Auch nach vielen Jahren der wiedergewonnen Kultur- und Sprachfreiheit ducken sich einige noch immer, weil sie es leid sind, zu den Schwachen zu gehören. Sie berufen sich auf ihre Staatsbürgerschaft, die groß in ihrem Pass steht. Diejenigen, die wissen, dass man nur noch in der unteren politischen Ebene, maximal in einer Gemeinde, etwas zu ihrem Gunsten entscheidet, engagieren sich für die Minderheitenrechte.«
Rita presst ihre Lippen aufeinander und zuckt nervös mit dem Kopf, dass ihr benetztes Haar zu schwingen beginnt.
»Sie wollen mich nicht verstehen. Ich meine, warum ist die Lenka Kalauke zu mir scheißfreundlich, und bei Ihnen beschwert sie sich über mich. Ist das typisch für eine verschworene Dorfgemeinschaft? Zugegeben, ich hab Frau Kalauke einmal – ein einziges Mal – nicht gut behandelt. Aber das ist vergessen. Inzwischen beschwere ich mich nicht einmal mehr, dass sie mich zu unmöglicher Zeit mit ihrer Anwesenheit überfällt und dass ich kaum ein Wort verstehe, wenn sie redet. « Rita verstellt ihre Stimme und äfft: »Ah Riana heite hat neies Kleid? Und nirjends nicht durchjeschwitzt . «
Jens Jedro macht wortlos mit seiner Baumschere drei Schnitte am Pfirsichbäumchen, aber solange er schneidet, lacht er und wenn er lacht, das sieht Rita nicht ungern, dann kommt das Männliche aus ihm raus, das Willensstarke, das Beherzte. Das ist ihr klar, seit sie zur Zapust seine Ehrenaufwartung erhalten und aus seinen Händen das Zapuststräußchen bekommen hatte. Heute kommt noch eine Tugend von Jens dazu. Das Witzige.
»Lenka Kalauke beherrscht die deutsche Sprache sehr gut, aber sie muss ihr ja nicht aufs Wort gehorchen.« Sein Mund grinst, seine Augen lassen keinen Blick von der Frau, die für ihn Riana Gora heißt.
Auch wenn sein Blick unter die Haut geht, es bereitet ihr unbestritten ein schadenfrohes Vergnügen, ihren Widersacher so zu sehen, wie sie ihn heute sieht. Sein Gesicht ist vor Anstrengung gerötet und an den Schläfen und der Wangenpartie vom wilden Geäst zerkratzt. Seine blaue Montur, die er über den zartgrünen Pullover gestreift hat, hängt am Hintern herunter, den sie als knackig in Erinnerung hatte. Seine Schuhe weisen mehr Farbflecke auf, als noch Leder zu erkennen ist. Und das alles nimmt er auf Wunsch meiner verstorbenen Großmutter auf sich?
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