»Warum sind Sie nicht den Weg durch die Instanzen gegangen, wenn Sie meinten, es sei generell etwas schief gelaufen? «
»Weil das, was Sie Instanzen nennen, ganz tief da mit drinnen steckte.«
Das Ganze erscheint Rita auf einmal so unwirklich. Noch vor einer Woche hatte sie keine Ahnung davon, dass es einen jungen Mann gibt, dessen Schicksal sie interessiert, und heute kennt sie beinahe sein halbes Leben. Aber eben nur das halbe. Wenn sie über sein Leben schreiben will, dann muss es ihr gelingen, den jungen Mann zum Reden zu bringen, alles andere kann sie vergessen. Ihre Frage aber, ob sie einmal über ihn berichten sollte, verändert das friedlich müde Gesicht der Hannah Nock.
»Tun Sie, was Sie für richtig halten, solange Sie nicht gegen unsere Vorschriften verstoßen. Der Lutz wird von den Jugendlichen seines Alters schon jetzt nicht akzeptiert. Er gilt als Zögling, als Günstling. Ich weiß nicht, was man hier von ihm weiß, außer, dass er trotz seines Alters noch immer in der Obhut von Frau Bramsch lebt. «
Sie weiß ja längst, dass er geschnitten wird von den anderen, aber der Grund scheint ihr nicht ausreichend. Irgendetwas liegt in Lutz Wegener selbst vergraben, was Gleichaltrige spüren, besser als wir, denkt sie.
»Vielleicht ist er psychisch krank? «
Hannah Noack zieht die Lippen breit, als sei sie genervt von der Frage, und das ist sie wohl auch:
»Glauben Sie vielleicht wir dachten er sei nur nicht gut drauf? «
Rita schrickt zusammen. Innerlich. Nach außen bleibt sie ruhig. Es war eine so fruchtbringende Nacht, der Artikel nimmt sich schon jetzt auf einer beträchtlichen Größe aus, dabei sind die Bilder noch nicht einmal geschossen. Aber das jetzt, das hätte sie sich beide wirklich sparen sollen. Kein guter Abgang.
Am Sonntag zieht die Dorfjugend mit lautem Gesang von Hof zu Hof. Sie kann sie schon lange hören, und sie hört deutlich das Kreischen der Mädchen und das Schlagen der Pauke, wenn vor einem der Gehöfte zum Dank für die Gaben aufgespielt wird. Die anderen Instrumente kann sie noch nicht auseinanderhalten. Dank Lenka Kalauke hat sie ausreichend Alkohol im Haus. Von Speck und dem anderen Zeug hält sie nichts. Also holt sie die alten, dicken Schnapsgläser, die Oma Frieda Stamper genannt hat und die schon bei Omas alten Sachen in der Scheune lagen. Sie hatte bei all den Renovierungsarbeiten und dem Neu-Einrichten einfach noch keine Zeit, einen Container zu bestellen. Rita wäscht die Gläser noch einmal aus und stellt drei Sorten Schnaps bereit. Korn, Kognak und Pfefferminzlikör. Immerhin eine veritable Versuchung, den hörbar stark Angetrunkenen die beste Chance zu geben, sich bis an den Rand jeglicher Verträglichkeit zu besaufen. Immerhin. Schließlich wohnt sie im letzten Gehöft.
Als man bei den Brüdern Hinze weilt, von dem der eine nicht ans Tor kommt, solange der andere an seinem steht, rückt Rita den Hocker mit den Gläsern schon mal mitten in das halbseitig offene Tor vom Körberhof, damit ihr bloß niemand zu nahe kommt.
Der Pulk auf der Straße trieselt schon auseinander, als sie neben den Trompetenbläsern das gleichförmige Gesicht unter dem leicht gewellten Haar erkennt. Jens Jedro bläst kein Instrument, er führt den Zug an, wie es scheint. Lächelnd kommt er auf Rita zu und sagt einen Spruch:
»Zampa, zampa in der Gasse, füllt den Branntwein in die Flasche, Eier in den Koba, Geld in die Tasche. Gebt mir Speck, geh ich von eurer Türe weg. «
Beinahe glaubt sie, der Spruch müsse wendisch vorgetragen werden, damit er sich reimt, aber Jens würde wissen, dass sie kein Wendisch versteht. Trotzdem wird sein Spruch von den Zamperern heftig beklatscht und mit lautem Grölen honoriert. Seine glattrasierten Wangen haben ungewohnt Farbe angenommen und ihr Blick in seine heiteren braunen Augen zeigt ihr, dass sie die Lage wieder einmal völlig falsch eingeschätzt hat. Er scheint völlig klar im Kopf zu sein.
Um den Tanz kommt sie nicht herum. Ihre Gegner – die ja Befürworter des Tanzes sind - sind in der Überzahl, und deren angeheiterter Zustand ist ihr unheimlich. Rita lächelt trotzdem. Tief in ihr stellt sie sich die immer wiederkehrende Frage: Was hält diese Menschen so zusammen?
Vielleicht ist es ihre Art zu tanzen und zu singen, gemeinsam zu feiern, zu beten und zu trauern. Vielleicht aber zeigt das, was sie soeben erlebt hat, ihre besondere Art, die Heimat zu lieben, ohne die Fremden dabei zu hassen?
Dabei kommt ihr die Geschichte von Oma Frieda in den Sinn: … die Lutkis sind arglose Leutchen, die Musik, Gesang und Tanz lieben und mit den Menschen gute Freundschaft halten.
Sie kann nicht anders, akzeptiert ihre Lage, ohne ihre innere Distanz aufzugeben. Lange hält sie den Abstand nicht. Jens Jedro zieht sie energisch an sich heran und sagt so etwas, dass er froh sei über die Normalität. Und Rita sagt, dass gerade das hier nicht ihre Normalität sei. Irgendwann erklärt sie, sie könne nicht so herumtanzen, während die Leute auf einen guten Schluck warten. Aber Jens meint, wenn sie die Zampergaben dem Kiepenträger übergeben habe, hätte der Mundschenk einen guten Schluck für sie. Davon habe ihr die Lenka Kalauke nichts gesagt, meint Rita, befreit sich aus den nicht unangenehmen Armen des Mannes und eröffnet lächelnd ihre improvisierte Bar: »Nächstes Jahr weiß ich Bescheid.«
Das versteht Jens Jedro, warum sollte er sonst so zufrieden lächeln.
Atemlos schenkt sie den Leuten nacheinander ordentlich ein, macht mit dem einen oder anderen einen Scherz und lässt bei erkennbar Trunkenen auch mal eine deftige Zote los. Sie lächelt sogar dabei, und die meisten Leute lächeln zurück, sogar Jens Jedro lächelt noch immer.
Ein Paranoiker ist er also nicht, denkt sie. Aber von großer Bedeutung ist diese Erkenntnis nicht. Er hat seine Ablehnung von einst offenbar hinter sich gelassen, so wie die Kuh den Fladen hinter sich lässt, um im nächsten Moment genau in diesen Fladen hinein zu trampeln.
Die Musik macht eine Pause, Zeit für den Umtrunk der Musiker. Sie trinken schnell und viel. Rita kippt den Inhalt der Flaschen randvoll in die Stamper, die von Mund zu Mund gehen und die man ihr immer wieder gierig entgegenstreckt.
Als der lautstarke Zug endlich friedlich zum Gehöft gegenüber weiterzieht und Kuno Kalauke im gestreiften Barchenthemd unter breiten Hosenträgern den gepflasterten Gartenweg mit einem Tragebrett zum Zaun geschlurft kommt, bleibt Jens noch bei Rita stehen. Sie schauen zu, wie Kuno Kalauke mit seinen Gichtfingern das karierte Tuch vom Brett fummelt, unter dem wahrhaftig Speck und Eier zu liegen scheinen, und wie er Worte sagt, die Rita nicht versteht.
»Die Alten lieben es, in ihrer Muttersprache zu reden. Sie lieben ihre Heimat und setzten alles daran, dass es die ihre bleibt«, sagt Jens Jedro und ganz nebenbei sagt er noch, »ohne die Fremden zu hassen.«
Der Kiepenträger mit dem Speckspieß sackt ein, was Kuno anbietet und die Zamperer lachen mit ihm, anders, als sie mit Rita gelacht haben. Verbundener.
Vom Pulk seiner Zampergemeinde noch immer getrennt schaut Jens Jedro dahin, wohin Rita jetzt schaut. Hinter der Fensterscheibe von Kalaukes Haus ein seltsamer Anblick. Gleiches ist ihr schon mehrmals aufgefallen, aber sie hatte bisher kein Interesse daran zu ergründen, was es sein könnte. Auch heute nicht, wäre da nicht Jens Jedro, der seltsame Worte schützend vor die Alte wirft, als er Ritas Blick bemerkt.
»Sie hat doch nichts mehr. Keine Abwechslung. Was soll sie denn tun? Das Fernglas gehörte einst Kuno, aber seit er nicht mehr zur Jagd geht … Ich meine, es ist doch nicht schlimm. Sie beobachtet alle. Auch mich.«
Beinahe ist es Rita, als müsste sie sich vor Lachen ausschütten. Dann aber würde man ihr die Trunkenheit nachsagen, die sie den anderen an den Hals gewünscht hatte. Wie trinkfest das Dorfvolk ist, konnte sie ja nicht ahnen. Aber sie ist noch nüchtern genug, um Jens Jedro zu verstehen. Diese Lenka ist doch wirklich ein seltsamer Mensch. Überall hängt sie ihre Nase hinein, nur da, wo sie sollte, da lässt sie es bleiben.
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