Eisbein? Sieh an, geht doch, denkt sie, und wird im Nu noch bissiger, als sie es sich bis eben noch vorstellen konnte.
»Bei mir nicht«, sagt sie und tritt ein bisschen wie naiv von einem auf das andere Bein, reibt überdies die Knöchel ihrer Handgelenke und grinst den Mann verschlagen an. Die anderen Männer starren geradeaus mit zugefrorenen Mienen. Hinter dem Tresen rumort es und im selben Moment kommt eine korpulente Mittvierzigerin mit drei übergroßen Tellern, vollgepackt mit dampfendem Eisbein und Sauerkraut, durch den engen Durchgang jongliert und flötet vor sich hin:
»Karl, wenn der Juri nicht mehr kommt, muss einer von den Männern Juris Eisbein mitessen.«
Der Bärtige, der Karl heißt und offenbar der Inhaber der Gaststätte ist, die man hier Frenzels Gasthaus nennt, dreht zornig seinen Kopf zur Frau. Die zuckt zusammen, stellt die Teller vor drei der Männer ab und ist wieder verschwunden.
Es ist entsetzlich stickig im Raum. Rita hat nicht die Absicht, eine Minute unnütz hier zu verbringen, obgleich, das zu erleben, was ihr gerade passiert, ist absolut zielführend. Es verschafft ihr sogar ein kleines Kitzeln auf der Haut. Dieses Kitzeln hatte sie schon zweimal. Das erste Mal, als sie Lenka Kalauke vom Hof gejagt hat, das zweite Mal, als sie die Garstigkeit des Jens Jedro über sich ergehen ließ. Das jetzt, dass man ihr nicht einmal ein Eisbein gönnt, ist trotzdem keine größere Sache, nur endlich eindeutig. Es ist sogar wie Balsam gegen ihre kleinen Gewissensbisse, die sie bisweilen bekommt. Wenn sie ehrlich ist, hätte es sie gewundert, ja geradezu misstrauisch gemacht, hätte man sie freundlich eingeladen.
Der Mann, dessen Stimme die von Jens Jedro ist, redet gerade davon, die nächste Versammlung gleich zwischen dem Zampern und der Zapust abzuhalten. Er spricht Sapust besonders weich, wie schon Lenka Kalauke, und er scheint ruhig und sorglos. Zwar hat er das Gerede hinter seinem Rücken wahrgenommen, nicht aber den Anlass für den Wortwechsel des Gastwirtes mit dem späten Gast.
»Es ist doch gerecht, dass, wer einen Korb bekommt, auch einen zurückbringt?«, sagt Rita schnippisch und deutet mit knapper Geste auf den Rücken im roten Pullover. Irgendwo im Unterbewusstsein von Jens Jedro entsteht gerade ein Bild, das er in diesem Moment am wenigsten erwartet hat. Sein Nacken zieht den Kopf nach vorn, doch der Körper weigert sich, der Stimme in seinem Rücken zu folgen. Bislang ist ohnehin kein System erkennbar, wie die versammelte Dorfgemeinschaft die Sache mit dem ungeliebten Gast zu Ende bringen wird, nur die Wirtin erscheint inzwischen mit weiteren drei Tellern und platziert sie vor den Wartenden.
»Wir wollen Ihnen nichts Böses, Fräulein …«, raunt die Wirtin im Vorbeigehen. Zu befürchten hat die jetzt wohl nichts mehr, ihr Mann — der bärtige Gastwirt — sitzt wieder am Tisch und massakriert angestrengt den Klumpen Fleisch auf seinem Teller.
»Ich wette, Jack The Ripper hat das Gleiche gesagt, bevor er die vielen Frauen umbrachte.«
Mit einigem Schwung stellt sie den blauen Einkaufskorb auf den Tisch nebenan, stellt sich so, dass sie der Händler Jens nicht länger ignorieren kann, und wirft ihm mit höhnischem Grinsen eine Kusshand zu.
»Die nächtliche Begegnung mit Ihnen war mir eine große Freude.«
Die Tür klappt schwer ins Schloss, ihr Schritt hallt hart von den Fliesen zurück. Ihr Mund kräuselt sich zufrieden. Sie wettet, die Stammtischgesellschaft rätselt jetzt lautstark, wer mit der nächtlichen Begegnung gemeint ist. Soll Jens Jedro ruhig zusehen, wie er da wieder rauskommt.
Draußen im Vorraum riecht es nicht mehr nach Moder und Seife. Plötzlich sticht ihr der penetrante Geruch von Schweinen in die Nase. Am liebsten würde sie mit einem Wisch die Angebotstafel ändern: Ständig im Angebot: Schweinskerle mit Sauermienen.
Dazu aber müsste sie sich wahrhaftig die Finger schmutzig machen. Riana Gora würde es vielleicht tun, aber Rita Georgi ist zu müde, zu abgespannt und dennoch so voll innerer Spannung auf den letzten Akt des Tages, dass es sie eilig nach Hause zieht.
Bevor sie unter die Dusche steigt, öffnet sie die Favoriten ihres Explorers.
Sie hat sich nicht geirrt. Lutz W. steht unter dem Text, den sie noch lesen will, bevor sie nichts, aber auch gar nichts mehr hören und noch weniger sehen will von dieser engstirnigen Welt, diesem hinterwäldlerischen Gesocks, das sich Dorfgemeinschaft nennt.
Eine halbe Stunde später perlt das warme Wasser über ihre am Morgen sehr gut eingekremte Haut. Sie steht und genießt und immer wieder denkt sie diesen einen Satz: Lutz W. ist mit ziemlicher Sicherheit dieser Lutz Wegener aus Lübbenau.
Rita fühlt sich so, als habe sie gleich zwei Rollen in einem großen Theaterstück zu spielen. Eigentlich sind es drei. Zuletzt ist noch die Nebenrolle einer Kämpferin dazugekommen, die Kämpferin gegen verkrustete Strukturen in einer Dorfgemeinschaft, die eine Mauer um sich gezogen hat, nur durchlässig für pekuniäre Vorteile.
Beklagen muss sie sich nicht. Sie selbst hatte eine Zeit lang ihren gegenwärtigen Zustand als erstrebenswert angesehen. Aber nun, wo der Winter so verdammt anhänglich ist, findet sie es nicht eben prickelnd, jeden Abend allein in ihrer Wohnung zu sitzen und vor lauter Einsamkeit zu arbeiten oder am Exposee für den nächsten Roman zu tüfteln.
Zum ersten Mal verflucht sie sogar etwas, was sie selbst einmal geschrieben hat: Einsame Menschen sollten es sich von Zeit zu Zeit einmal richtig schön machen – nur für sich selbst. Schön anziehen, den Tisch schön eindecken, bei Kerzenschein essen und einen guten Tropfen trinken.
Sie hat es ausprobiert und seither hat sie das Vertrauen in Ratgeberkolumnen völlig verloren, in ihre eigenen am meisten. Es war eine Katastrophe. Sie hat am nett dekorierten Tisch gesessen und nichts anderes gespürt, als dass sie schnöd versetzt worden ist von einem geliebten Menschen. Das war der erste Abend in ihrem neuen Leben, der mit Tränen endete. Seitdem ist sie sich gar nicht mehr so sicher, ob sie nicht doch den Erstbesten nehmen würde, wenn sie mal eine Schulter braucht. Vielleicht würde sie sogar wieder auf einen wie Nils Hegau hereinfallen?
An diesem Wochenende soll es ihr nicht so gehen. Freitagnacht, und wenn nötig am Samstag noch einmal, wird sie beim Jugendnotdienst verbringen. Ihr Artikel ist für eine ganze Zeitungsseite geplant, sobald der Umbruch es zulässt. Es ist ihr egal, wann das sein wird. Fakt ist, bei der Spree-Rundschau wird es niemanden geben, der ihren Artikel bis zur Unkenntlichkeit kürzt. Sollten die Nächte beim Jugendnotdienst keinen besonderen Anlass zur Änderung geben, steht auch der Titel bereits fest: Schattenkinder.
Hin und wieder spielt sie mit dem Gedanken, Sigurd Bramsch anzurufen und sie über die Bitte des jungen Mannes zu informieren, dessen Namen sie nicht wisse. So würde sie jedenfalls nicht lügen. Irgendeine Reaktion würde es schon geben. Entweder ihre Vermutung stellt sich als richtig heraus, oder es gibt diese gottverdammten Zufälle.
Es schneit mal wieder Ende Februar. Sie hasst diese Tage, an denen man das Kunstlicht nicht ausschalten kann, an denen man kaum bis zum Gartenzaun blicken kann. Noch einige Anrufe muss sie führen, dann wird sie sich Zeit nehmen für die Artikel, die sie über den Jungen Lutz W. gefunden hat. Inzwischen sind es mehr als zehn, Kurzmeldungen sind auch darunter.
Auf dem Anrufbeantworter bitten drei Bibliotheken der Region um einen Rückruf. «In Ihrem Interesse». «Es geht um Ihr Buch». Oder: »Wir möchten mit Ihnen eine Lesung vereinbaren.«
»Na bitte, es geht los«, murmelt sie vor sich hin. Im Bücherfrühling ist sie mit ihrem Buch bereits eingeplant, obwohl erst Anfang März mit der ersten Rezension zu rechnen ist. William Klauser, der führende Literaturkritiker, hat ihr den Termin genannt und gesagt, dass er Mark Hellmann schicke, der ein Foto schießen werde. Mark war einst nur Fotoreporter, hat sich dann aber zum Allrounder entwickelt. Quasi im Vorbeigehen auf dem Gang hat ihr Klauser sogar ein kurzes Statement gegeben. Befürchtet hat sie nichts. Klauser schreibt nie vernichtend, nur wenn man sehr sensibel liest, erkennt man die feinsinnige Mängelanalyse, die bisweilen – oberflächlich gelesen – auch noch sehr wohlwollend klingt. Das Buch sei gut, hat Klauser gesagt, aber es sei zu befürchten, dass ihr einige Menschen in der Stadt nicht mehr wohl gesinnt sein werden.
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