Rita ignoriert die Jungen und läuft unbeirrt weiter, doch nach wenigen Schritten weiß sie, dass die Kerle Recht haben. Sie selbst fühlt sich zuweilen aufgemotzt. Und sie weiß plötzlich auch, was den Jungen an der Mauer fehlt: Zuzuhören. Sich auf sie einzulassen. Ihnen einmal Recht zu geben, wenn sie Recht haben. Man muss trotzdem nicht alles schlucken, die falsche Grammatik zum Beispiel.
Warum ignoriert sie die Jungen? Ein kleines Lachen, ein guter Witz, vielleicht sogar ein kluger Hinweis? Was kann es schaden?
Wenn Eltern der Meinung sind, Erziehung sei zu anstrengend, dann ignorieren sie die Probleme der Kinder, und bald ignorieren sie ihre Kinder. So hatte auch ihre Mutter sie irgendwann ignoriert, und so hat sie diese vom Leben gelangweilten Kinder jetzt auch ignoriert. Manchmal macht man sich das Leben zu leicht.
Die Leiterin vom Jugendnotdienst Hannah Noack erwartet die Journalistin von der Spree-Rundschau schon mit Kaffee und Gebäck. Trotzdem unterbreitet sie ziemlich schnell den besten Vorschlag, den sie Rita hätte machen können.
»Wenn Sie die Probleme wirklich verinnerlichen wollen, Frau Georgi, dann kommen Sie für ein bis zwei Tage — besser noch Nächte — hierher und erleben sie mit, was es bedeutet, richtig zu reagieren.«
»Warum Nächte?«
»Nachts ist es am schlimmsten.«
Hannah Noack hält inne, als müsse sie ihre Gedanken ordnen. Und dann sagt sie in einer Art, als würde ihr genau das, was sie sagt, erst selbst richtig bewusst.
»Die Probleme der Kinder haben sich gewandelt in letzter Zeit. Kinder sind nicht mehr die unbeholfenen Kleinen. Es ist auch nicht immer häusliche Gewalt oder gar Missbrauch, was sie zu uns führt. Kinder stehen heute viel mehr unter psychischem Druck. Es werden viel zu hohe Erwartungen an sie gestellt. Überall. Zu den Versagensängsten kommen dann die schwierigen Lebensumstände in den Familien dazu und fertig ist das Problem.«
»Soll das heißen, die körperliche Gewalt ist rückläufig?«
»Nein, aber die größeren Kinder sind aufgeklärter als noch vor Jahren. Sie kennen ihr Rechte viel besser und sie haben gelernt, sich gegen die eigenen Eltern durchzusetzen.«
»Sie kommen also von selbst?«
Hannah Noack wiegt ihren Kopf bedenkend hin und her.
»Laut jüngster Statistik sind über vierzig Prozent der Inobhutnahmen Kinder unter vierzehn Jahren. Auf eigenen Wunsch kamen beinahe dreißig Prozent aller Fälle. Zum Glück ist in der Gesellschaft eine größere Sensibilität zu spüren. Die schlägt auch auf den Mut der betroffenen Kinder zurück. Der körperlichen Gewalt können sie vielleicht noch entrinnen, aber gegen den seelischen Druck können sie sich aus eigener Kraft nur schlecht wehren. «
Inobhutnahmen? Auch solch ein Wortmonstrum, das nur im Amtsdeutsch seine Nahrung findet, denkt sie, aber die Fakten regieren in diesem Moment über Feinsinn.
Glücklicherweise kennt Rita die Zahlen aus der Statistik, aber unglücklicherweise kann sie nicht gut schauspielern und so tun, als sei sie noch total uninformiert. Manchmal löst gerade die Unwissenheit des Fragenden den Befragten die Zunge.
»Wie finden Sie immer das rechte Maß? «
»Das Jugendamt muss die Mädchen und Jungen in seine Obhut nehmen, sobald Gefahr für das Wohl des Kindes besteht. Die Gefahr einzuschätzen ist ein schmaler Grat. «
»Fühlen die Kinder selbst sich danach wohler? Oder haben sie ihren Familien gegenüber Gewissensbisse?«
»Vorübergehend nicht. Eher dann, wenn sich die Situation wieder entschärft hat. Wir prüfen auch dann sehr gründlich.«
Rita denkt an den Jungen, mit dem traurigen Blick, von dem sie den Bericht entdeckt hatte. Ihr fällt sogar sein Name wieder ein: Lutz.
»Es sind doch nicht immer die Eltern? Auch Jugendliche müssen vermutlich auf den richtigen Weg gebracht werden. «
»Sofern nichts Schwerwiegendes dagegen spricht, werden sie bei uns eine Zeit lang betreut und können gemeinsam mit Experten herausfinden, welche Wege sie in Zukunft gehen wollen. Auch gestrauchelte Kinder und Jugendliche können jederzeit selbst um Aufnahme bei uns bitten. Dazu regelt der Paragraf 42 des Sozialgesetzbuches Genaueres. «
Noch während Hannah Noack spricht, klingelt das Telefon. Sie zieht die Schultern nach oben und murmelt noch beim Abnehmen des Hörers: »Entschuldigung. Wir müssen hier zu jeder Zeit ansprechbar sein.« Dann hört sie angespannt zu, ihre Augen wandern immer wieder zu Rita, so, als wollten sie sagen: Ich hab's geahnt.
»Okay, Gesine«, sagt Hannah Noack mit sehr viel Ruhe in der Stimme. »Nimm deine Schwester, setzt dich in den Bus und komm her. Hast du Geld?«
Hannah Nock nimmt rasch einen Schluck Kaffee und kritzelt etwas auf ihren Block.
»Einen Busschein also. Ist gut. Weißt du, welche Linie? …Okay, dann kommt. Und habt keine Angst, das kriegen wir wieder hin …«
Nachdenklich legt die Frau den Hörer zurück und beginnt noch nachdenklicher ihre Worte zu formulieren.
»Zwei Schwestern. Wir kennen sie gut. Ihre Mutter war ein paar Tage zur Entgiftung in der hiesigen Klinik. Zu Hause sollte sie nun auf einen Therapieplatz warten. Jetzt liegt sie wieder total betrunken auf dem Sofa, nachdem sie versucht hat, die Mädchen zu schlagen, weil sie keinen Nachschub aus der Kaufhalle holen wollten. «
»Was geschieht jetzt mit den Mädchen?«
»Sie werden in unserem Notdienst betreut und können auch hier übernachten. Morgen wird es ein Clearing geben, wie es weiter geht und wer sich um die Mutter kümmert.«
Rita schreibt alles mit, nur Worte wie Clearing ersetzt sie sofort mit allgemeinverständlichen. Die Zahlen sind ihr nicht neu, nur weiß sie zu wenig über die Gründe all dieser Fälle, wo Kinder und Jugendliche aus eigenem Wunsch die Familien verlassen.
»Die liegen in der Gesellschaft«, sagt Hannah Noack. »Chancenlosigkeit oder Überforderung der Eltern. Vernachlässigung. Delinquenz. Oder auch Straftaten – auch der Jugendlichen selbst.«
Hannah Noack schlägt vor, nicht lange zu warten. Die Nacht vom Freitag zum Samstag könnten sie gemeinsam in der Notdienststelle verbringen. Rita verbietet sich zu glauben, Hannah Noack sehe eine willkommene Abwechslung, weil sie selbst Nachtdienst hat. Das Leben wird sie dann auch das Gegenteil lehren.
Weil sie gewartet hat, bis die beiden Mädchen angekommen sind, ist es später geworden als gedacht. Vorsichtshalber ruft sie beim Verein Soziale Vielfalt erst an, ob sie noch vorsprechen kann. Sie soll unbedingt kommen. Genau genommen wäre sie jetzt lieber nach Hause gefahren. Ihr ist nicht gut, im Kopf dreht sich alles ein wenig und das ist für die Rückfahrt im Dunkeln nicht gerade angenehm. Außerdem sind die Informationen, die sie bisher hat, nicht gerade üppig, aber Rita weiß zumindest: Der Verein hat auf seine Fahnen geschrieben, Jugendliche mit Problemen dort abzuholen, wo sie sind, und sie lebensfit zu machen.
Was immer das bedeutet, will sie hinterfragen und im Kontext mit dem Jugendnotdienst in ihrem Artikel darstellbar machen.
»Wer mit Jugendlichen umgeht, braucht ein großes Spektrum an Kompetenzen, an Wissen und an menschlichen Eigenschaften«, sagt ihr die Geschäftsführerin Sigurd Bramsch, noch ehe Rita begreift, in welche Runde sie hineinplatzt. Da sitzen Sozialpädagogen, Familientherapeuten, Lehrer, Fachleute für Sozial- und Gesundheitswesen und sogar Kulturpädagogen. Auch wenn sie lieber mit Jugendlichen selbst geredet hätte, das geballte Hintergrundwissen kann auch nicht schaden.
»Wir sind etwas im Stress«, sagt die Vorsitzende und zeigt in die Runde.
»Wir arbeiten mit Hochdruck am Projekt zur Gründung einer Kompetenzagentur, die junge Leute zwischen sechzehn und siebenundzwanzig Jahren dabei unterstützt, ihren Weg in der Gesellschaft und möglichst stabil ins Berufsleben zu finden.«
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