Mehr Zeit, darüber nachzudenken, ist ihr jetzt nicht vergönnt. Am Hoftor erscheint gerade die Alte von gegenüber, die sie schon einmal vergrault hat und für die ihr im Moment gar keine passende Abfuhr einfällt. Es fällt ihr nur noch ein, dass sie am Fall dieses Jungen dranbleiben will. Irgendwann einmal wird sie weiter recherchieren. Sie legt die Online-Seite auf ihre Favoriten und schließt den Zugang zum Archiv, als es auch schon an der Außentür läutet. Rita geht hinaus und öffnet die Tür. Fast form- und gestaltlos steht sie vor ihr, die Alte. Sie hat jetzt ihre Arme unter die Schürze geschlagen, die über dem dunklen Filzrock geknotet ist. Oben herum eine warme Jacke, ein Schoßrock, wollig zwar, aber kaum über den Schürzenbund reichend. Die watteweich umwickelte Alte hat das Kopftuch weit ins Gesicht gezogen, seitlich staucht es faltig auf die Schultern, genau, wie es Oma Frieda immer getragen hat.
»Ich will keinen Ärger nicht , aber Kuno, was mein Mann ist, und ich, wir haben jedacht …«
Rita atmet tief durch und schaut der Alten kläglich ins Gesicht. Es ist nicht leicht auf dem Dorf. Nicht mit dem Abstand und nicht mit der Nähe.
»Was dachten Sie beide denn, Frau Kalauke.«
Sowie die Alte ihren eigenen Namen hört, erhellt sich ihr Gesicht, die Arme rucken unter der Schürze hervor und sie fragt Rita, ob sie nun Fräulein sagen soll oder Frau.
»Riana, sonst nichts. «
»Riana , ja doch …« Die Alte fährt mit der Hand durch ihr Gesicht und zieht die Falten glatt, die ihren Mund einengen. »Ja doch«, wiederholt sie, als besinne sie sich auf den Grund ihres Besuches. Es sei wegen dem Heischegang, sagt sie und vergisst wie stets alle Artikel zu sprechen. Dafür vergisst sie nicht — wie stets — zu erwähnen: »Bei uns lebt sich ordentlich.« Am Sonntag kämen junge Leute auf die Höfe und wenn man nichts im Hause habe, würden die Zamperer keinen Spaß verstehen. Die könnten ganz rappelig werden, Mülltonnen ausräumen … oder umschupsen eben.
Rita hat nur Heischegang verstanden und dass die Jugend rappelig wird, aber den tiefen Sinn, der Lenka Kalauke zu ihr getrieben hat, den erkennt sie noch immer nicht.
Was geht mich der Heischegang an?, denkt sie genervt. Mit der Kirche hatte sie nie etwas im Sinn, warum sollte sie hier so tun, als sei sie dem lieben Gott für etwas dankbar.
»Frau Kalauke, ich habe jetzt wirklich keine Zeit für diesen Humbug!«
»Bist halt nicht von hier«, sagt die Frau verdammt abschätzig. Sie verschluckt dabei — wie schon Tage zuvor — das H., was dem Satz einen komischen Sinn verleiht: Bist alt nicht von ier.
Und weil sie nicht von hier sei, könne sie getrost auf die Alten vertrauen.
»Wenn es etwas zum Vertrauen gäbe, dann wäre es etwas Anderes, aber Kirchgänge aller Art sind wirklich nicht mein Ding. Ehrlich.«
Rita drückt die Tür schon gegen den Körper der Lenka Kalauke, doch der rückt Zentimeter für Zentimeter immer weiter in die Diele vor und es scheint, dass Lenka Kalauke ihr Ziel noch lange nicht erreicht hat. Schon ist sie um die Tür herum und drückt jetzt unmerklich von innen gegen das Holz, bis die Tür beinahe wieder geschlossen ist.
Langsam nimmt der Klang ihrer Stimme einen verschwörerischen Ton an. Die Zamperer hätten früher immer Speck, Schnaps und Eier verlangt. Heute würden sie auch mit Geld zufrieden sein.
Rita denkt, dass es wohl heute nur noch um Geld geht, aber eine Strategie für den endgültigen Rauswurf der aufdringlichen Frau fällt ihr nicht ein. Sie schüttelt ihren Kopf und steht perplex vor der Alten, die sie noch immer belehrt. Ihr sei es egal, was sie macht, aber sie solle sich nicht beschweren, wenn die Leute im Dorf sie danach schneiden würden. Und dann sagt sie noch einmal den Satz: »Bei uns lebt sich anständig. «
Ja, zampern, das kennt Rita doch. Was redet die Alte vom Heischegang, wenn sie das Zampern meint? Und was ist eigentlich die Zapust? Egal, die Leute ziehen durch das Dorf und wollen den dunklen Winter vertreiben, Gefahren und Dämonen vom Dorf fernhalten und den Frühling begrüßen. So ungefähr hat es Oma Frieda erzählt, aber das kann sie der Alten nicht auf die neugierige Nase binden, nicht das von Oma Frieda. Und wenn sie eine Fremde bleiben will, darf es sowieso nie jemand wissen.
Also bittet sie Lenka Kalauke in ihre Küche, bietet ihr sogar einen Stuhl an und lässt sie die Sache vom Zampern in Ruhe erzählen und von der Fastnacht eine Woche danach, die die Alte prompt die Zapust nennt. Und nun wird alles irgendwie logisch.
Doch dann sagt sie, Rita habe damit zu rechnen, dass ihr zur Zapust das Zapuststräußchen angesteckt wird, wenn sie beim Zampern nicht kleinlich ist. Zur Zapust halte man Ehrenbesuche ab und drehe mit besonderen Honoratioren im Dorf eine Ehrenrunde. Auf ein Tänzchen mit dem Bürgermeister oder dem Vereins-Chef, müsse sie sich als Neue schon einrichten, wenn sie möchte, dass das Dorf ihr zuwachse .
Dieses Zuwachsen ist ein selten schönes Wort für das, was es ausdrücken soll, denkt Rita. Sie wird es einmal benutzen, wenn sich die Gelegenheit ergibt. Oma Frieda hatte ähnlich schöne Worte, die nicht im Duden stehen und wenn, dann in anderer Bedeutung. Hemdig , wenn Opa im bloßen Hemd über den Hof lief. Heimzu , wenn sie auf dem Weg nach Hause waren.
Rita ist auf wundersame Weise mit der Alten versöhnt.
Das würde sie schon tun, sagt sie sanft, aber jetzt müsse sie zur Arbeit. Rita erhebt sich rasch und hält der Frau die Küchentür auf.
Als Lenka Kalauke endlich versteht, warum Rita nun wirklich keine Zeit mehr hat, geht sie ohne ein böses Wort zu verlieren. Vom Küchenfenster aus schaut Rita hinterher und sieht hinter Nachbars Gartentor einen Hund mit dem Schwanz wedeln, der dann der Alten brav zurück zu deren Haus folgt.
Während der Fahrt mit dem Auto durch den kleinen Ort, den angrenzenden Wald, bis zu der Stelle, wo die Kreisstraße auf die Landstraße einbiegt, gehen ihr noch die Fetzen von den Bildern eines einzigen Morgens durch den Kopf. Es gelingt ihr nicht, eine klare Linie in die Mentalität der Menschen zu bringen. Die einen sind abweisend, die anderen aufdringlich. Rita Georgi würde mit der Alten durchaus Mitleid empfinden, dem Händler indes großes Verständnis entgegenbringen können für seinen Frust, den er ganz sicher den unsicheren Verhältnissen zu verdanken hat. Aber im Dorf ist sie nicht Rita Georgi. Hier ist sie Riana Gora. Wenn sie sich vor all den dörflichen Traditionen schützen will, wenn sie ihre Ruhe haben will, wenn sie erneute Belästigungen ihres neurotischen Möchtegern-Liebhabers nicht herausfordern will, muss sie jetzt durch, auf Gedeih und Verderb.
Nein, das mit dem Verderb ist so nicht gemeint. Den Verderb hätte sie schon haben können, wenn sie geblieben wäre, wo und was sie war.
Auf der Fernstraße nach Lübben endlich wieder Leben. Und hier ist sie ab jetzt wieder Rita Georgi. Langsam wird ihr das alles zu viel und sie fürchtet, sie verheddert sich eines Tages in ihrer eigenen Identität.
Zwei Anlaufstellen hat sie in der Kreisstadt. Den Verein Soziale Vielfalt und den Jugendnotdienst.
Zum Glück ist die Stadt überschaubar und sie kann das Auto im Schlosspark abstellen und ihre Wege zu Fuß gehen. Zuerst will sie zum Jugendnotdienst.
Irgendwo unterwegs auf Bänken vor einer schmucklosen Mauer lungern ein paar junge Männer herum, trinken Bier und pöbeln die Passanten an. Auch Ritas rotes Haar muss für derbe Witze herhalten.
»He Alter, das Perlhuhn da, das glüht schon.«
»Eh, der ihr Style flasht total.«
Die Herumlungernden lachen grässlich laut, bis der eine sagt:
»Eh, halt mal dein Streichholz an die Aufgebrezelte dort …«
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