» Njedra« , sagt die Alte gerade und holt Rita aus ihren ungewollten Gedanken. Die Worte der Frau hören sich an, wie damals bei der Alten Kalauke auf ihrem Hof, » ein Unglück könnte gestern bei uns passieren ?«
Ja, was denn nun? So hat sie den Konjunktiv noch niemals gehört. Ist nun ein Unglück passiert. Hat sie etwas verpasst? Welches Unglück? Oder hätte eines passieren können? Manchmal muss sie höllisch aufpassen, dass die vielen Gedanken, die ständig ihren Kopf durchziehen, sie nicht aus dem wahren Leben kicken. Nun hat sie verpasst, welchen Grund zur Befürchtung die Alte hat.
»Aber wenn ich in Stadt fahre, ich muss nemska hotowac anlegen«, schnalzt sie geradezu durch ihre blubbernden Lippen.
»Es wird dir auch in deinen Röcken niemand etwas Böses tun«, sagt der Mann und trägt der dicken Alten den Einkaufskorb noch bis zur Tür.
Rita ist schon geschlagene fünf Minuten im Laden, aber der angeblich so nette Mann denkt gar nicht daran, sie nach ihren Wünschen zu fragen. Stattdessen dreht er ihr sogar den Rücken zu. Vor Frust nimmt sie einen Korb aus der Ablage und stapelt hastig hinein, was ihr unter die Finger kommt. Zu guter Letzt nimmt sie aus dem Brotregal drei Tüten heraus, in denen sie frische Brötchen vermutet, obwohl sie zum Henker nicht weiß, wer die alle essen soll. Der Mann dreht sich um und nimmt wortlos zwei der Tüten wieder aus ihrem Einkaufskorb. Erst als Rita zum Protest ansetzt, sagt er maulfaul:
»Mehr gibt’s nicht …«
Weich und gutmütig? Hat sie das wirklich gedacht? Seine Stimme ist alles andere als das. In ihre Verwirrung hinein, die stark genug ist, um eine vorgefasste Meinung zu korrigieren, antwortet sie mit gespielter Dickfelligkeit:
»Das sagt mein Arbeitgeber am Gehaltstag auch immer.«
»Einen Arbeitgeber hat die Dame also.«
Rita stellt sich taub, schaut sich gelangweilt im Laden um, wartet eine Weile und murmelt dann vor sich hin:
»Ich glaube, ich muss mir einen größeren suchen.«
Der Mann bleibt stumm. Womöglich überlegt er, ob sie einen größeren Laden oder einen größeren Arbeitgeber meint.
»Haben Sie keinen Arbeitgeber?«, fragt sie wie lustlos, dabei amüsiert sie sich gerade prächtig.
»Nee. «
»Sie sind also selbstständig?«
»Logisch. Oder?«
»Oh, die Konversation mit Ihnen ist die anregendste, die ich in meiner ganzen Laufbahn als Journalistin je hatte.«
Verdammt! Warum sagt sie Journalistin?
»Ich mag Journalisten nicht«, mault der Mann prompt.
»Aber Sie möchten doch Zeitung lesen?«
»Ich mag auch Steak, aber deswegen muss ich den Schlächter noch lange nicht mögen.«
Rita sieht, wie ihm Schweißperlen auf der Stirn wachsen, obwohl der Morgen recht frisch daherkam und es auch jetzt kaum zehn Grad sind, die das Thermometer zeigt. Hier drinnen ist es nicht viel wärmer. Also, warum schwitzt der Kerl. Der will es der Fremden zeigen. Das ist es.
»Ich dachte doch wirklich, der Kunde sei König«, sagt sie mit einem wütenden Blick auf die Tüten, die er ihr wieder abgenommen hat. Mit derber Wucht landet der zerschrammte Einkaufskorb aus durchlöcherter Plastik auf dem ebenso abgenutzten Ladentisch. Am Phlegma des Mannes, den man als sehr nett bezeichnet hat, ändert sich nichts. Er schaut sie nicht einmal an, antwortet aber stur auf ihre Frage.
»Hier ist niemand König. Wir im Osten haben was gegen die Monarchie.«
»Wir im Osten …?«
Jetzt muss sie lächeln und würde ihm zu gerne Recht geben, aber das hat sich diese Dorfdogge von Schnapsbewacher, dieser Ladenhüter, gar nicht verdient.
»Sind Sie …« Der Mann beginnt mit fahrigen Händen die Preise der Waren aus Ritas Korb in den kleinen Rechner einzutippen, »ledig?«, vollendet er nach einer Pause, als habe ihn das Tippen so sehr in Anspruch genommen. Natürlich hat er sich die Frage völlig neu überlegt. Natürlich wollte er eigentlich wissen, ob sie vom Westen kommt, und das freut Rita ganz ungemein. Er hätte nicht das Recht, sie danach zu fragen, will er auf Toleranz machen. Gerade im Osten beklagt man sich gerne über die Intoleranz der Westler, die ganz genau zu wissen vorgeben, was die Ostler falsch gemacht haben. Aber so gestellt hört sich die Stakkato-Frage des Händlers in der Tat an, als habe Rita kein Anrecht auf so viele Waren in ihrem Korb. Und das wiederum ist nur lächerlich. Heute entscheidet der Geldbeutel alles. Ausnahme bildet nur die Unvernunft.
»Und wenn ich nein sage?«
Der Mann schaut sie kurz an, schüttelt seinen Kopf beinahe unmerklich, um gleich wieder mit der Tipperei fortzufahren.
»Dafür hab ich `n Riecher, glauben Sie mir.«
»Dann wird es wohl so sein, wie einer meiner Freunde behauptet hat.«
Sein abschätziger Blick spricht Bände. Also war es das erste große Missverständnis.
»Man sagt, ehe man hier einen Furz lässt, riecht ihn schon das halbe Dorf. « Es ist nicht ihre Art zu reden, aber es ist offenbar die Art, die zu dem ganzen Dilemma passt, aus dem das Dorf besteht. Für ihren Geschmack verfehlt der Mann gerade das Ziel, seinen zweiten Gesichtsausdruck hinzubekommen, aber dann sagt er:
»Wenn Sie Brötchen bestellen, bekommen Sie auch welche. Ich fahre sie sogar morgens bis vor die Tür.«
So weit sind die Wege hier nun wirklich nicht, will sie ihn belächeln, aber dann fällt ihr ein, dass ein frisches Brötchen am frühen Morgen noch angenehmer wäre, müsste man dafür das Haus gar nicht erst verlassen.
»Und es macht Ihnen nichts aus, sich zur rothaarigen Fremden auf den Hof zu wagen?«
Der Mann hebt die Schulter, prüft noch einmal, ob der eingetippte Preis auch stimmt, und gibt sich gelangweilt.
»Ich fahre praktisch bei Ihnen vorbei.«
»Praktisch«, sagt sie mit blitzenden Augen und denkt schon wieder an den Furz, den der Mann schon gerochen hat, noch ehe sie ihn gelassen hatte.
Der Mann, der Jens Jedro heißt, wie sie auf seinem Namensschild lesen kann, nickt nur, während die Tüten im Regal direkt neben Rita plötzlich einen ländlich frischen Hefeduft verströmen. Es ist genau der Duft, den sie noch von ihrer Kinderzeit in der Nase hat. Damals war ein frisches Brötchen wie ein kleines Geschenk der Natur, und genau so rochen sie auch — sie hielten nur nicht so lange frisch, wie die heutigen. Innerlich wird sie ein wenig wütend, weil es tatsächlich Brötchen von einem ländlichen Bäcker sein müssen, der noch nach altem Rezept backt. Und die stehen wohl einer Fremden nicht zu?
»Sie denken wohl, bei einer Schriftstellerin ist alles nur Theorie – einschließlich Brötchen ausfahren?« Rita hebt ihr Kinn und spielt mit ihren Augen den geborenen Vamp.
»Also wollen Sie nun, oder wollen Sie nicht.«
Dieser Platz ist sein Thron, dieser miefende Laden sein Reich, in dem er regiert. Nett muss er nicht sein, kein Herrscher ist je in Nettigkeit erstickt.
»Geht das praktisch auch in nett?«, sagt sie nun doch, nickt unmissverständlich und zeigt mit zwei Fingern die Anzahl der Brötchen an, die sie quasi per Handschlag bestellt.
»Täglich? «
»Täglich, sofern …? «, sie zieht das Portmonee aus der Tasche und hält es so, dass der Mann es bemerken muss. »Ich meine, heute hat eine Tüte Milch aus dem Supermarkt mittlerweile eine längere Haltbarkeit als ein Versprechen. «
»Außer sonntags«, sagte er ohne besondere Regung, nennt ihr die Summe, die sie zu zahlen hat, wechselt das Geld und lässt sie mit ihrem Korb stehen, dabei hat sie weder eine Einkaufstasche dabei, noch liegen irgendwo Plastiktüten herum.
Zu der Frau, die mit einem geflochtenen Einkaufskorb gerade den Laden betreten hat, ist dieser Jens plötzlich super nett …
Auf dem Rückweg zu ihrem Haus spürt sie den spitzen Wind noch intensiver als zuvor. Er kommt jetzt von vorn, piekt wie Nadelstiche im Gesicht und dringt durch die Knopflöcher ihrer Jacke bis auf die Haut. Kein Wunder, dass sich in ihrem Kopf schon wieder ein kleines Mühlenrad dreht. Sie sollte schneller laufen, den Kreislauf ankurbeln, aber der Einkauf ist in ihrer Rage wohl doch etwas zu üppig ausgefallen.
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